Geschlechterbeziehungen im Alter

Internationaler Kongress Frauen Altern – Männer Altern Zürich, 27. Juni 2007 Geschlechterbeziehungen im Alter Hubert Speidel Am Tage des Kongresses feierte Helmut Schmidt, der ehemalige deutsche Bundeskanzler, seine eiserne Hochzeit mit seiner Frau Loki. Das Paar hat als Erfolgsrezept für 65 glückliche Ehejahre Toleranz und Respekt genannt. Den Partner müsse man so nehmen, wie er ist. Es ist eine einfache Maxime, und vielleicht die meisten von uns würden wohl, wären sie in die Lage versetzt, eine ähnliche Empfehlung gegeben haben. Aber der nähere Augenschein auf die sich wiederholenden beziehungsrelevanten Ereignisse, Gewohnheiten, Vorlieben und Aversionen läßt aus einer scheinbar banalen Allerweltsweisheit ein schier unlösbares Welträtsel, aus einem kommod gepflasterten Lebenspfad eine Eigernordwand entstehen, der nur die wenigsten gewachsen sind. Wählte ich alle Beispiele für die partnerschaftszerstörenden Inkompatibilitäten, so ginge ihre Zahl gegen unendlich. Alle diese Materialien, aus denen unser Leben gewirkt ist, lassen die Vorstellung einer Art prästabilierter Harmonie der Paare jedenfalls kaum zu. Erhellender mögen die empirischen Befunde der Altersforschung sein. Hier aber machen wir die überraschende Beobachtung, dass die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Alter vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Am meisten interessierte die Sexualität im Alter, ein eher neuer Gegenstand. Noch Kinsey (8) widmete 1948 der männlichen Alterssexualität ganz zwei Seiten, und die Sexualität der alten Frauen war ihm 1953 nur eine Tabelle wert (9). Die neueren Untersuchungen dazu beschäftigen sich eher mit der Funktion als mit der Beziehung. Newman und Nichols (11) fanden eine geringe Korrelation zwischen sexueller Aktivität und Lebensalter und eine erstaunliche Konstanz gegenüber den früheren Lebensphasen. Sexuelle Interessen zeigen also keinen Altersabfall. Den entscheidenden Ausschlag für die Beendigung der sexuellen Aktivitäten geben indessen die Männer, sei es durch die Einbuße der Funktion oder durch ihren Tod. Laut Newman und Nichols (a.a.O.) sind beide Geschlechter, die Gesundheit der Partner vorausgesetzt, bis ins 7., 8. und 9.Jahrzehnt sexuell aktiv. 50 – 60% der 75- bis 90-jährigen Männer sind noch zu einem vollständigen Coitus fähig. Eine Untersuchung von Unger und Brähler (16) aus dem Jahr 1998 fand Vergleichbares. Möglicherweise hätte eine aktuelle Studie dieser Art wegen der inzwischen bedeutsamen Popularität potenzfördernder Mittel andere Ergebnisse. In der großen Übersicht von Palmore über „normal aging“ aus dem Jahr 1970, aus der ich zitiert habe, gibt es auch eine Studie von Busse und Eisdorfer (24), die „glückliche“ und „weniger glückliche“ Frauen und Männer vergleicht. Die Männer der „weniger glücklichen“ Frauen waren nahezu gleichaltrig. Von diesen Frauen zeigten 57%, von den „weniger glücklichen“ Männern 43% psychoneurotische Symptome, von den „glücklichen“ Frauen nur 20% und von den „glücklichen“ Männern nur 13%. „Glückliche“ Paare haben – wen wundert´s – häufiger sexuelle Beziehungen. Bei den „weniger glücklichen“ Paaren hatten die Frauen einen signifikant höheren Intelligenzquotienten – neurotisch, aber intelligent. Aus solchen Befunden lassen sich im jüngeren Lebensalter Empfehlungen ableiten, die auch im höheren Lebensalter bedeutsam bleiben: Frauen kann man folglich empfehlen, ältere und gescheite Männer zu heiraten. Das geschieht auch oft, und es hat für Frauen den Vorteil, dass ältere Männer schon eine lebensphasisch bedingte längere Gelegenheit hatten, ihre Tauglichkeit zu beweisen. Allerdings gehen solche lebensklugen Frauen das hohe Risiko ein, eine lange Witwenzeit zu erleben. Neurotische Partner, das lehren Busse und Eisdorfer (a.a.O.), sollte man besser nicht wählen. Das hätten wir auch ohne die Autoren gewusst, aber das Unglück ist jedenfalls oft schwer zu vermeiden. Zu den wenigen Autoren, die sich unmittelbar und umfassend mit den Partnerbeziehungen im Alter beschäftigt haben, gehören die Heidelberger Altersforscherin Ursula Lehr, die eine zeitlang auch deutsche Bundesministerin war, der Schweizer Philosoph, Psychologe und Theologe Joseph Duss-von Werdt, und der emeritierte Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie der Zürcher Universität, Jürg Willi. Frau Lehr beschäftigt sich in ihrem Buch „Psychologie des Alterns“ (10) mit der schwankenden Intensität der Bindungen. Gemeinsam erlebte Notsituationen verstärken die Bindung, während sich in Zeiten allgemeinen Wohlstands eher Störfaktoren bemerkbar machen. Es ist eine zutreffenden Beobachtung, die jemand selbst machen konnte, der wie Frau Lehr Kriegs- und Nachkriegszeit am eigenen Leibe erlebte. Es ist der Erlebnishorizont, den sie mit den älteren der heute Alten in Deutschland teilt. Unter dieser Perspektive wird auch ihre Beobachtung plausibel, wonach das gegenseitige Verständnis der Ehepartner im höheren Lebensalter stärker als in jeder vorangehenden Lebensphase sei. Dem würde Kerckhoff (7) wohl widersprechen, der gefunden hatte, die Partnerbeziehung sei im höheren Lebensalter für die Beteiligten nicht mehr so bedeutsam, zugunsten intergenerativer Bindungen. Das gelte vor allem bei niedrigerem sozialem Status, während in den höheren Schichten noch eher gemeinsame Interessen weiterbestünden. Allerdings sind diese Beurteilungen bei näherer Betrachtung wohl weniger antagonistisch, als sie zunächst erscheinen: gebildete Menschen können ihr Zusammengehörigkeitsgefühl durch die Pflege kultureller Interessen fördern; für andere sind es die Kinder und Enkelkinder, welche die Gemeinsamkeit begründen. Garanten sind weder das eine noch das andere, sei es, weil die kulturellen Interessen divergieren und damit trennend wirksam werden können, sei es, dass die Kinder und Enkelkinder spärlicher werden und oft nicht vorhanden sind. Die Bindungskraft der Not wird heutzutage weniger als in der Vergangenheit – und vielleicht der Zukunft – durch materielle als durch die körperlichen Defizite und die daraus erwachsende Verbundenheit über die gegenseitige Fürsorge wirksam. Für viele der bindungsfördernden Faktoren im Alter gilt aber, ob es die Sexualität, die kulturellen Interessen oder die Enkelkinder sind, dass sie in früheren Lebensepochen gepflanzt und über das weitere Leben hin gehegt werden müssen, um im späteren Lebensalter noch blühen zu können. In diesem Sinne weist Duss-von Werth (3), ein ausgewiesener Eheberater, auf die Notwendigkeit hin, der Ehe gegenüber der Elternschaft ein Eigenleben...

Konfliktstrukturen im Alter – Kassel 2006

18. Symposion „Psychoanalyse und Altern“ Kassel 16. Dezember 2006 Konfliktstrukturen im Alter Hubert Speidel Der Major, eine der Hauptfiguren in Wilhelm Meisters Wanderjahren möchte um Hilarien werben. Er ist 50 Jahre alt, seine Angebetete ist ein junges Mädchen. (10) Es ist eine damals wie heute eher ungewöhnliche, aber mögliche Konstellation, vorausgesetzt, der Mann hat Geist, war oder ist produktiv oder körperlich gut erhalten, oder er ist reich, d.h. er hat ein gutes genetisches Potenzial und Lebenstüchtigkeit erwiesen. In der einen oder anderen Variante ist er nicht chancenlos, weil er dem genetisch verankerten Schutzbedürfnis von Frauen genügt, das heutzutage sich unter zeitgenössischem emanzipatorischem Selbstverständnis verbirgt. Insoweit haben manche Männer – auch alte und hässliche – einen systematischen Vorteil vor Frauen, deren genetisch verankertes Kapital Jugend und Schönheit und deshalb leichter verderblich sind. Aber, wie wir wissen, birgt diese scheinbare Alterschance der Männer viele Risiken und Konfliktstoffe. Männer sind oft zu verblendet, um sie zu sehen. Wenn man Männer und Frauen befragt, wo sie die Lebensmitte wähnen, sind Frauen ziemlich realistisch, Männer aber nicht. Sie antworten, als würden sie 120 Jahre alt, obwohl sie ja früher sterben als Frauen. Es ist das Ergebnis einer Umfrage meiner Hamburger Kollegin Dr. Viola Frick-Bruder unter Kollegen. (6) Männer können überdies noch zu Lebzeiten ihr Vermögen verlieren oder einem körperlichen Gebrechen verfallen und so ihre Chance einbüßen, oder sie können einem jüngeren Rivalen unterliegen. Bei Goethes Major, einer durchaus autobiographischen Figur, ging die Sache so aus: der Major verlor plötzlich einen seiner vorderen Zähne, und weiteren drohte dasselbe Schicksal; bei seinen Gesinnungen, wie Goethe schreibt, schien es ihm unmöglich, sich einer Prothese zu bedienen. (10)(18)(19) Wir verstehen dies vielleicht besser, wenn wir bedenken, dass die damalige Prothesentechnik nicht so makellose Kunstwerke erlaubte, die das Lachen vieler heutiger weißhaariger Zeitgenossen schmücken. Der Major aber hätte es unwürdig empfunden, als vom Alterszerfall sichtbar Gezeichneter seine Werbung aufrecht zu erhalten. Hier taucht beiläufig ein Entsagungsmotiv auf, dessen Bedeutung die Goethe-Forschung erst seit jüngster Zeit im biographischen Kontext würdigen kann. (8) Das Beispiel ist eine Illustration dafür, wie sich jenseits der unausweichlichen Alternsprobleme die Problemstruktur gewandelt hat. War einst der Verfall des Gebisses ein untrüglicher Ausweis des allgemeinen Verfalls und das einsetzbare Gebiss eine unvollkommene Verschleierung von Altersabbau und Attraktivitätsverlust, so hat der wundersame technische Fortschritt der Medizin nicht nur unsere Prothesengott-Illusion (5) mächtig gestärkt, sondern der mediale Umgang damit hat überdies die prothesenbezogene Beschämung reduziert, auch weil in unserer Gesellschaft generell das Schamgefühl einem mehr oder weniger schrankenlosen Exhibitionismus gewichen ist. Die Makellosigkeit der Ästhetik hat die Frage nach Naturwüchsigkeit vs. Künstlichkeit in den Hintergrund rücken lassen und eher die Assoziation der Wohlhabenheit mit der Prothese verknüpft, denn die Implantate können leicht den ökonomischen Gegenwert einer stattlichen Limousine erreichen, und diese dentale Darbietung der Saturiertheit, die den Wohlstandsembonpoint früherer Mangelgesellschaften ersetzt hat, wird ihren sozialen Mehrwert noch verstärken, wenn es der Politik gelungen sein wird, die Privatversicherungen zu ruinieren und die Poverté der Bürgerversicherung zu etablieren, die Ärzte, Pharmaforschung und Versorgungskomfort in einer ineffizienten Staatsmedizin vergerechtigt haben wird. Die technische Medizin, die wir einst mit der phasen- und zeitgemäßen Arroganz junger Psychosomatiker als subhuman diskreditiert haben, bereitet der vergreisenden Gesellschaft eine Fülle funktions- und jugendlichkeitserhaltender humaner Errungenschaften, die in der Gemengelage sozialer Jugendlichkeitsanforderung und schwindender Jugend den Alternden Jugendersatz, verlängerte Jugend, Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit und damit die vom Zeitgeist erforderte Würde der gesellschaftlichen Zugehörigkeit diesseits der Ghettos der Seniorenpaläste verleihen. Frauen können mit hormoneller Hilfe und chirurgischer Kunst Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit erhalten, und dies ist wegen der Brüchigkeit der Beziehungen notwendig, die es ihnen nicht mehr erlaubt, im glücklichen familiären Gefüge zu Matronen heranzureifen. Männer können sich mit Hilfe von Sildenafil und Vardenafil im Stande der erotischen Werbungs- und Konkurrenzfähigkeit halten. Der trübe Blick des Katarakts lässt sich mit Kunstlinsen beheben, am und im Ohr tragen wir raffinierte, sich selbst regulierende Mini-Computer, die uns vor sozialer Isolation bewahren, die Gelenke sind durch ein kunstvolles Stück Unsterblichkeit ersetzbar, der Blutdruck ist überlebenshaltig regulierbar, das Podagra ist medikamentös zu vermeiden; die Herzkranzgefäße sind durch einen Stent oder durch Autotransplantate zeitweise stabilisierbar, die hängenden Augenlider lassen sich verjüngen, um nur einige der diskreten Manipulationen an unserem Erscheinungsbild, Funktionszustand und sozialem Angebotspotential zu nennen. Den Möglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt. Solche medizinischen Wunderdinge können unser Leben verlängern, uns zeitweilig das der Medizin immanente Unsterblichkeitsversprechen zu unserer Illusion werden lassen, entsprechend Canetti´s Ergänzung der feldherrlichen Frage des Großen Kurfürsten. „Kerls, wollt ihr ewig leben?“ Canetti`s Antwort: „Ja“. (2) Wir können Erleichterungen unserer körperlichen Gebrechen verspüren, aber auch von Unternehmungen und Eroberungen träumen und sie sogar verwirklichen. So mischen sich, mehr als in einer früheren Ära, in der Entbehrungen und Gebrechen noch unerbittlichere Begleiter unseres Lebens waren, in uns die Lebensalter, das Zeitgemäße und das Unzeitgemäße, genauer: wir sind ungewiss über das Angemessene und Unangemessene, und oft fahren wir wie mit dem Fahrtsuhl durch die Geschosse unseres inneren historischen Gebäudes. Natalia Ginzburg beschreibt diesen ungewissen inneren Ort so: „Wir bewahren noch lange die Gewohnheit zu glauben, dass wir ‚die Jungen‘ unserer Zeit sind, so dass wir, wenn wir jemanden von ‚Jungen‘ sprechen hören, den Kopf wenden, als spräche man von uns. Eine Gewohnheit, die so tief verwurzelt ist, dass wir sie vielleicht erst ablegen werden, wenn wir ganz zu Stein geworden sind, d.h. am Vorabend unseres Todes.“ (9) Das männliche Pendant beschreibt Michel Leiris: „Während der letzten Tage hatte ich schon ein sehr seltsames Spiel gespielt – etwas, das ich jetzt mit einer sonderbaren...