Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur Hubert Speidel In: Brigitte Boothe (Hrsg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches 162-181. rüffer & rub Sachbuchverlag Zürich 2013 Einleitung Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand. Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein. Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen. Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, formelle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung. Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen. Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird. Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung. Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen. Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft. Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung. Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen. Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge. Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007). Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi...