Mythos und Logos in Weimar

8. Goethe-Herbsttagung
Weimar, 25. Oktober 2014
Perspektiven der Anna Amalia und Goethe-Forschung

Der Mythos der faulen Äpfel
Der Mythos sagt: Schiller hatte faule Äpfel in seiner Schreibtischschublade. Hier spricht der Mythos offenbar, wie es die neuere Mythos-Forschung vertritt, eine Wahrheit aus. Der Logos sagt:  Friedrich Schillers Vater Johann Kaspar, der auch mein Vorfahr ist, war nicht nur Barbier, Wundarzt, Offizier und Hofgärtner des Herzogs Carl Eugen, sondern auch ein bedeutender Pomologe. Auf ihn geht zurück, dass an den württembergischen Landstraßen, wie ich es als Kind noch kannte, links und rechts Apfel- und Birnbäume standen, eine Allmende-Wirtschaft, damit auch die armen Leute ihr Obst haben und ihren Most herstellen  konnten. Äpfel waren damals ein Grundnahrungsmittel, und nach der Ernte wurden sie auf dem Boden, den Zwischenböden und im Keller aufbewahrt. Die moderne Wirtschaft hat das überflüssig gemacht, und die wenigen Apfelsorten, die uns in den Supermärkten noch angeboten werden, sind auf Schönheit und Makellosigkeit hin gezüchtet. Dem wurde alles geopfert, was Äpfel früher ausmachte: Krankheitsresistenz, Vielfalt, Geschmack und Duft. Die Äpfel, die wir kaufen, aber nicht lagern, schmecken mehrheitlich nach nichts und duften überhaupt nicht. Wie sagte jener holsteinische Appelbuer: He kann de Einheitsappeln ut´n Supermarkt nich utstahn. He bit leever in sien Harvstprinz rin. (Die alte englische Sorte Ribston Pepping, die schon Johann Kaspar Schiller rühmte, ist allerdings noch besser.) Heutigen Generationen fällt das nicht auf, weil sie es nicht anders kennen. Sie wissen nicht, dass Äpfel köstlich duften würden, wenn man sie ließe. Die Häuser früherer Zeiten waren von September bis Weihnachten von dem Parfum der vielen alten Apfelsorten erfüllt. Die Äpfel faulten natürlich, damals wie heute, aber da wir keine Vorratswirtschaft kennen, erleben wir das nicht. Wir wissen deshalb auch nicht mehr, dass faule Äpfel alter Sorten noch einige Zeit genauso duften wie frische Äpfel.

Wenn Schiller also Äpfel in seiner Schublade aufbewahrte, so war das keine Koprophilie, sondern sie hatten die Funktion eines Nahrungsmittels, sie waren eine Ehrung seines Vaters, sie halfen gegen das Heimweh, und sie waren ein exquisites ästhetisches Element.

Wenn wir über Schillers faule Äpfel reden, so können wir uns damit auf die Wahrheit des Mythos berufen, aber es fehlt uns der Kontext, den der Logos liefert.

Die Wahrheit des Mythos
Dass Mythen sich mit faulen Äpfeln beschäftigen, ist eher die Ausnahme. In der Mythosforschung lassen sich vielmehr zunächst Mythen großer Reichweite, die Gründungsmythen wie das Chinesische Weltei, von den Mythen mittlerer Reichweite, z. B. der Gründung von Nationen unterscheiden (2). Schillers Äpfel gehören zu den Mythen geringer Reichweite. Noch nicht im Zusammenhang mit der Mythosforschung gesehen, wiewohl ein entwickelter Forschungszweig, ist die psychologische Narrationsforschung – ein vorläufig bestehender Mangel der in Bezug auf die Mythosforschung heutzutage notwendigen Interdisziplinarität. Die individuelle Erzählung, das Narrativ, ist nämlich ein privater Mythos, den wir durch die um Kredit beim Zuhörer bemühte Darstellung unserer Geschichte oder einer Geschichte, deren Held oder Opfer wir sind, entwickeln (4). Das Narrativ dient der Stabilisierung unseres Narzißmus und unserer sozialen Stellung. Insofern ist das Narrativ als Mythos dem politischen Mythos verwandt, der ein Mittel der Stabilisierung, des kollektiven Narzißmus, der nationalen Identität und des solidarischen Zugehörigkeitsgefühls als Mittel der kollektiven Kohärenz ist. Mythen sind gespeichertes Wissen. Im Chaos bilden sie ein Ordnungsprinzip und machen Unvertrautes vertraut. Es sind „Basiserzählungen“, aus denen sich Ritualisierungen und Tabus ableiten, die das menschliche Zusammenleben stabilisieren  (2).
Die Funktion des Mythos, nämlich der kollektiven Stabilisierung, wurde durch die Aufklärung erschüttert, die Welt wurde – ein Begriff von Max We-ber – entzaubert. Aus Unverfügbarem wurden Optionen. Wir leben seitdem, wie Auguste Comte sagte, im Zeitalter des Positivismus. Aber die Ersetzung der Metaphysik, des Mythos, des Glaubens, durch wissenschaftlich-rationale Denkgebäude ist selbst ein Mythos, oder, wie es Adorno und Horkheimer formulierten: wenn man Mythen abschafft, entstehen neue Mythen (a.a.O.).

Adorno selbst war der Ursprung eines folgenschweren Mythos: mit scheinbarem Logos, nämlich einer schlechten wissenschaftlichen Studie über die autoritäre Persönlichkeit. Damit war er der Miturheber der Reeducation, deren Folgen Politik und Medien bis heute dominieren und in dem nationalen Mythos einer postheroischen und antifaschistischen Bundesrepublik mündeten (a.a.O.).

Die Mythen also wird man nicht los, nicht die guten und nicht die schlech-ten, und wenn wir von Freiheit, Gerechtigkeit, Souveränität, Zukunftsfähigkeit, Nachhaltigkeit (a.a.O.), Transparenz, Integration, Inklusion, Emanzipation und dergleichen lesen, so sind es lauter Mythen und Kleinmythen.

Auf die Illusionen der Aufklärung folgte die Romantik, und auf die Dominanz der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts folgten als Reaktion nicht nur die Psychoanalyse, die ihrerseits auch Mythenforschung ist, sondern ein bis in die neueste Zeit reichendes wissenschaftliches Interesse an den Mythen, mit bedeutenden Forschern: Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, Walter F. Otto, Karl Kerényi, Mircea Eliade, Claude Lévi-Strauss, Kurt Hübner und anderen.

Der Hauptgegenstand der Forscher waren bis in die neueste Zeit zunächst die griechischen Mythen, die erstmals in ihrer Spätphase bei Hesiod und in Ilias und Odyssee notiert wurden, nicht jedoch die viel älteren chinesischen. Die Forscher verfolgten natürlich nicht die populäre abschätzige Position des Mythos als Unwahrheit, sondern – so der Titel eines Hauptwerkes von Hübner – „Die Wahrheit des Mythos“ (10). Der Mythos ist eine Erzählung, die Allgemeingut geworden ist, deshalb eine überdauernde Wirkung ausübt und damit wiederum ihre eigene Wahrheit erzeugt. Die Tell-Erzählung beispielsweise  ist zu einem nationalen, identitätsstiftenden Stabilisator geworden, der die Schweiz trotz dreier unterschiedlicher Sprachen eint und u. a. auch vor den Zumutungen der EU schützt (2).

Die mythische Erzählung schafft ein Verständnis der Zusammenhänge, die durch begriffliche Abstraktion und Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend erfasst werden kann (11). Sich durch Erzählphantasie in der Welt zurecht zu finden ist eine menschliche Eigenschaft, die nicht ausstirbt und nicht ersetzbar ist, und deshalb stirbt der Mythos nicht aus. Er verwandelt die Kontingenz in etwas Notwendiges und ist deshalb sinnstiftend. Lévi-Strauss vermutet, dass es eine Tiefenstruktur des menschlichen Denkens gibt, die alle Äußerungen des sozialen Lebens determiniert.

Hübner veranschaulicht mythisches Denken an Hölderlin, den man ohne Verständnis des Mythischen nicht verstehen kann. Hölderlin begriff die dichterische Erfahrung als mythische und suchte sie in ihrer reinen, durch nichts gebrochenen und nicht vermengten Weise. Das Dichterische ist ihm nicht Allegorie, sondern, wie er sagt, das Tautegorische, das seine eigene dichterische Wirklichkeit hat. Diese Wirklichkeit muss der Dichter die Menschen erst „sehen“ lernen, und er darf sich nicht, wie es die „Zeitungsschreiber“ tun, damit begnügen, getreu das Faktische zu erzählen. „Scheinheilig“ nennt er Dichter, die sich, gestützt auf ihren aufgeklärten Verstand, mythologischer Themen nur in poetischen Floskeln bedienen. Am Beispiel des Gedichts „Der Wanderer“ erläutert Hübner den parataktischen, den hypotaktischen und den synthetischen Aspekt von Hölderlins Dichtung. Der parataktische besteht in der Aufzählung der diese Landschaft – das Rheintal – kennzeichnenden Gegenstände: Tal, Weinberge, Mauern, Schiffe, Wälder usw. Der hypotaktische Aspekt besteht darin, dass diese Teile zunächst dem Fluss, dann aber auch dem lichtspendenden Äther und der fruchtbringenden Erde als ihre Ursprünge und Urquellen untergeordnet werden. In dieser hypotaktischen Sicht hat ein Fluss „seine“ Täler, Wälder usw., der Berge Quellen eilen herab zu ihm, er „trägt“ Sonne und Mond „im Gemüt“, d.h. der ganze Kosmos spiegelt sich in diesem Mittelpunkt. Die Städte sind „Kinder“ des Flusses, er nährt sie. Synthetisch ist die Art, wie Hölderlin die para- und hy-potaktischen Ordnungen als einen umfassenden, lebendigen Zusammen-hang erfasst (10, S. 21 f). Der Mythos schafft und ist ein von ihm antropo-morph zentrierter kosmischer Organismus.

Herder – wir nähern uns erneut Weimar – sah in den unendlich vielen Er-scheinungen, Bildern und Gestalten der Schöpfung Symbole und Hierogly-phen der Gottheit. Von einer Reise von Riga nach Nantes schreibt er: in Allem, was er dabei beobachtete, sah er „Data, die erste Mythologische Zeit zu erklären“. Er verstand also, wie es zur mythologischen Betrachtung der Dinge kam, und dass sie sich auch dem gegenwärtigen Menschen zwingend in solchem Licht zeigen, wenn er ihnen ohne den Schutzmantel der Zivilisation preisgegeben ist. Bei der Betrachtung der Indischen Veden erweckte ihm die Sanskrit-Forschung die Neigung, in den vergangenen, untergegangenen Kulturen etwas dem Heutigen Gleichwertiges, wenn nicht Überlegenes zu sehen. Beides führte ihn zur Aufwertung des Mythos (a.a.0., S. 21).

Karl Philipp Moritz, der Autor des „Anton Reiser“, den Goethe in Rom ken-nengelernt hatte, schreibt: „Die Göttergeschichten der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen ist ein ebenso tö-richtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei er-zwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichten zu verwandeln suchte.“ „Um an diesen schönen Dichtungen nichts zu verderben, ist es nötig, sie zuerst, ohne Rücksicht auf etwas, das die bedeuten sollten, gerade so zu nehmen wie sie sind.“ Also: Mythos ist Dichtung (a.a.O., S. 52).

In diesem Sinn sagt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“: „Ob man nun wohl, wie auch geschehen, bei diesem Gegenstande philosophische, ja religiöse Betrachtungen anstellen kann, so gehört er doch ganz eigentlich zur Poesie“ (7, S. 49). Hübner schreibt dazu: „Darin liegt aber für Goethe, dass er letztlich das Ergebnis derselben Phantasie und Einbildungskraft ist, die sich auch in der alles schaffenden und organisierenden Kraft der Natur widerspiegelt. Gerade deswegen lassen sich für Goethe Dichtung und Naturforschung nicht scharf trennen. Wer das Urphänomen und die Urpflanze zu erfassen sucht, greift nach den ewigen Schöpfungsideen, welche die Natur wie den Künstler leiten… Sofern also Mythos Dichtung ist, bringt er … wie die Natur klare und deutliche Bildungsgestalten hervor“ (10, S. 52). Goethe „sucht zu erforschen, wie jene unvergleichlichen (griechischen) Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abgeschlossen ist …“. „Ich habe eine Vermutung“, bemerkt er in der „Italienischen Reise“, „daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin“ (8, S. 167f). Für Hübner ergibt sich der Eindruck, es gehe bei Goethes Auffassung des Mythos um den schönen Schein.
In Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“ heißt es:

„Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,
Seelenlos ein Feuerball sich dreht,
Lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.“ (10, S. 54)

Und in Faust II lesen wir:

„Alles was jeh geschieht
Heutigen Tages
Trauriger Nachklang ist´s
Herrlicher Ahnherren Tage;
Nicht vergleicht sich dein Erzählen
Dem was liebliche Lüge,
Glaubhaftiger als Wahrheit,
Von dem Sohne sang der Maja.“

Maja hatte dem Apollon weisgemacht, ihr Sohn Hermes könne ihm seine Rinder nicht gestohlen haben, weil er ja noch ein Kind sei. Mythos ist, so lässt sich aus Goethes Satz folgern, nicht gegenwärtige Wahrheit (a.a.O., S. 419).

Von diesem durch die Aufklärung angekränkelten Blick unterschied sich die Sichtweise der Griechen auf ihre Götter als der Erfahrung des Numinosen grundsätzlich. Sie gehörten ja zu ihrer gegenwärtigen Welt, und so waren diese nicht auf einen Feuerball reduziert (a.a.O., S. 76f).

Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf beschreibt diese Erfahrung so: „Die Götter sind da. Dass wir dies als eine gegebene Tatsache mit den Griechen erkennen und anerkennen, ist die erste Bedingung für das Verständnis ihres Glaubens und ihres Kultus. Dass wir wissen, sie sind da, beruht auf einer Wahrnehmung, sei sie innerlich oder äußerlich, mag der Gott selber wahrgenommen sein oder etwas, in dem wir die Wirkung eines Gottes erkennen.“ „Denken wir Jahrtausende zurück, so muß man den Verkehr der Götter mit den Menschen beinahe alltäglich nennen, wenigstens können sie immer kommen, und wenn sie geladen werden zu Opfer und Schmaus, so ist das ganz ernsthaft gemeint.“ Das Opfermahl ist der Grundgedanke mythischer Welterfahrung. Aber die Götter sind überall und durchwirken alle Bereiche des Lebens. Sie wurden als etwas so Selbstverständliches betrachtet, dass sie dafür keiner Argumente und Beweise bedurften (a.a.O., S. 77).

Walter F. Otto schreibt in einem Brief an die Prinzessin von Sachsen-Meiningen: „Was unsere Augen wahrnehmen, was unsere übrigen Sinne erfassen, was wir fühlen und denken, all dies mag noch so ursprünglich und eigen sein, es ist uns doch in gewissem Maße schon vorgegeben, denn es steht und bewegt sich innerhalb der Geisterwelt, an der seit vier Jahrtausenden unsere Dichter, Götterboten, Künder und Denker gebaut haben. Wir selbst, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, stehen mit unserem ganzen Dasein in dieser geistigen Welt, des Mythos nämlich.“ „Es gibt bekanntlich kein Denken ohne Sprache, und schon in der Sprache, die wir als Säugling lernen … ist diese Welt präformiert … Unsere Sprache … ist, wie der Kundige weiß, durchaus mythisch …“ (a.a.O., S. 78).

Walter F. Otto stand also ganz in der Kontinuität der mythischen Welt. Ich habe seine Vorlesung gehört, als er schon über 80 war, ein ehrwürdiger Herr, nicht mehr ganz von dieser Welt, wie wir jungen Studenten fanden, mit schwarz gefärbten Haaren, und unter uns ging das Gerücht um, er glaube noch an die griechischen Götter. Das konnten wir uns gut vorstellen, aber wir wussten nicht, dass die Kirche ihm genau dies vorwarf, was er wiederum heftig bestritten haben soll.

Hübner beschäftigt sich weiter mit Ähnlichkeiten der mythischen und der wissenschaftlichen Welt. Es gilt Kants Feststellung, dass zwar alles mit Erfahrung anhebt, aber nicht alles aus ihr stammt (a.a.O., S. 255). Wir können „über die Präzision mythischer Aussagen nicht urteilen, indem wir sie mit wissenschaftlichen vergleichen, sondern indem wir sie in dem übergeordneten Zweck- und Lebenszusammenhang prüfen, der eine mythische Welt kennzeichnet und der sich … weitgehend von demjenigen der Wissenschaft unterscheidet“. Mythos und Lebenswelt sind nicht identisch, denn der Mythos ist für die heilige, nicht für die profane Welt zuständig, aber die beiden Bereiche überlappen sich (a.a.O., S. 273f).

Der Mythos drückt eine Vorstellungswelt aus, die unsere Scheidung von Subjekt und Objekt nicht kennt. Alle Erscheinungen nehmen am Numino-sen teil (a.a.O., S. 274). Numinose Wesen … lassen sich nicht aus einzelnen Elementen logisch nach bestimmten Prinzipien aufbauen, sondern stellen ganzheitliche Gestalten dar, die nicht weiter auf etwas außerhalb ihrer Liegendes reduzierbar sind. „Der Mangel an durchgängiger Logik innerhalb des Mythos“ liegt darin, dass Gegenstand und Wirklichkeit eine solche Logik nicht zulassen (a.a.O., S.276f). Hübner stellt fest: wissenschaftliche und mythische Erfahrung haben die gleiche Struktur. Die Unterschiede liegen ausschließlich im Inhaltlichen (a.a.O., S. 287). „Unser sogenanntes aufgeklärtes und wissenschaftliches Zeitalter – so Hübner – ist … in Wahrheit weder rationaler noch vernünftiger als andere, es wird nur so genannt“ (a.a.O., S. 289).

Der Mythos Weimar
Mythen sind ubiquitär. Während der früheren Jahrzehnte waren die Mythen unserer europäischen kulturellen Herkunft, vornehmlich die zahlreichen griechischen Mythen, Gegenstand der Betrachtung.

In jüngster Zeit erschienen auch Bücher, die sich nicht mit religiösen The-men, mit Göttern, einer fernen Vergangenheit, sondern mit nationalen My-then mehr politischer oder kulturhistorischer Art beschäftigen. Das Buch von Jobst Bauch „Mythos und Entzauberung“, 2014 erschienen, wurde ein-gangs schon zitiert (2). Von Herfried Münkler, dessen jüngstes Buch über den Ersten Weltkrieg („Der große Krieg“, 2014) viel diskutiert wurde, er-schien im Jahr 2009 „Die Deutschen und ihre Mythen“ (12). Hier kommen sie alle vor, von Hermann dem Cherusker und den Nibelungen bis zu den politischen Mythen der Nachkriegszeit.

Ein großes und vielfältiges Kapitel widmet sich dem Mythos Weimar, in dem wir uns alle wiederfinden und wiedererkennen können. Weimar ist einer der für uns wichtigsten, bedeutungsvollsten und folgenreichsten mythischen Orte. Einer der wirkmächtigsten Faktoren dieses Mythos ist, dass er nicht einer Heldengeschichte seine Entstehung verdankt, sondern dem Paradox von Niederlage und Schwäche, aus dem Geist und Poesie Weimar wie den sprichwörtlichen Phönix aus der Asche glänzend entstehen ließen und damit bis in unser Jahrhundert das Denken und das Selbstbewußtsein der gebildeten Deutschen prägten: nicht Macht, sondern Bildung, nicht Politik, sondern Kultur fördern den Menschen und verhelfen dem Gemeinwesen zur Bedeutung. Dieses Credo prägte die Generationen und half, Katastrophen zu überstehen. Der Stolz, das Land der Dichter und Denker zu sein, verdankt sich, wenn wir von dem ebenfalls armen Württemberg absehen, vor allem dem Weimar-Jenaer Kosmos und seiner kurzen Existenz.

Am Anfang stand also eine Niederlage: Kaiser Karl V. schlug die protestantischen Fürsten des Schmalkaldischen Bundes 1547 in der Schlacht von Mühlberg. Johann Friedrich der Großmütige erlitt eine lange Haft und verlor einen Großteil seines Landes. Er musste seinen Wohnsitz von Wittenberg nach Weimar verlegen (a.a.O., S. 330f). Das Land war und blieb klein, arm, ohne bedeutende Ressourcen, ohne politische Bedeutung und ohne militärische Macht. Umso wundersamer und suggestiver war dann, nach 200 Jahren der Niederlagenfolge, sein Aufstieg. Musäus, Wieland, Goethe, Herder und später Schiller in Weimar, der kometenhafte kurzlebige Aufstieg Jenas zu einer universitären Geniewerkstatt, im Wunderjahr 1784/1785. Mit den Schlegels, Tieck, Schiller, Fichte, den Humboldt-Brüdern, Schelling, Hölderlin war Jena für kurze Zeit, Weimar dank Goethe für längere Zeit, mit dem Höhepunkt der Goethe-Schiller-Freundschaft, ein geistiges Doppelzentrum in dem armen kleinen Land. Die von mehreren thüringischen Kleinstaaten betriebene Universität Jenas verblasste rasch, weil reichere Universitäten bessere Angebote hatten. Der Kantianer Reinhold beispielsweise ging nach Kiel. Aber Weimar blühte, vor allem durch Goethes langes Leben und Wirken.

Den Aufstieg Weimars zum Mythos des Bildungsbürgertums führt Münkler auf Goethes Ausstieg aus der Politik zurück, und auch die Folge, dass das Bildungsbürgertum den Abstand von der Politik pflegte. Diese Tendenz wurde mit Schillers Ankunft verstärkt, der die Abwendung vom politischen Betrieb in ein alternatives politisches Programm verwandelte, einer bildungsbürgerlichen Antipolitik. Die Verbindung von der Anwesenheit bedeutender Persönlichkeiten und der geringen Größe förderte andererseits die Nähe von Adel und Bürgertum, wie das an größeren Residenzstädten nicht möglich war (a.a.O., S. 334ff). In der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts entwickelte sich diese Konstellation zu einer politischen Alternative zur bürgerlichen Revolution. Damit verband sich dann, unter dem Einfluss Winkelmanns in der napoleonischen Zeit eine unterschiedliche Rezeption der Antike: dem machtassoziierten Interesse an  Rom einerseits und dem ästhetischen Interesse an der griechischen Antike. Es wurde, unter dem Einfluss von Schillers Briefen „über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (16) zu einem Versuch einer unendlichen Entwicklung, einem Versprechen deutscher Größe, jenseits der ephemeren Politik, mit dem man sich von der kulturellen Dominanz Frankreichs absetzte. Die politische Machtlosigkeit der deutschen Kleinstaaten verwandelte sich so in kulturelle Überlegenheit. Es war aber, wie Münkler betont, nicht nationale Konkurrenz, sondern noch in Fichtes Reden an die deutsche Nation (a.a.O., S. 337ff) Dienst an der Menschheit. An die Stelle der Revolution setzte Weimar die kulturelle Entwicklung mit Schillers programmatischen Schriften, in denen der Mensch im ästhetischen Staat ganz er selbst ist. Der Mythos Weimar füllte die durch den Untergang des Reiches, der durch Napoleon besiegelt wurde, entstandene Lücke (a.a.O., S. 340ff).

Der Mythos Weimar setzte auch gegen die Folgen der zunehmenden Arbeitsteilung und „Zersplitterung“ des Menschen nicht wie Rousseau die Abkehr vom Fortschritt, sondern mit Schiller – im 15. Brief der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ – das Spiel, mit dem das Notwendige seinen Ernst verliert: „… Der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (17). Ein erstaunliches Programm, nichts für Befreiungskriege. Schiller starb auch schon vor Jena und Auerstedt. Zwar konnte man das als Vorübung für die Rückkehr in die Politik verstehen, jedoch für die meisten wurde das ästhetische Spiel zur Abkehr vom politischen Machtkampf, aber gerade dadurch zur Überlegenheit qua Bildung (10, S. 344). Man konnte dies als Einübung ins Biedermeier sehen, aber der hellsichtige Heine sah im Vergleich mit der politisch-kulturellen Erneuerung in Frankreich eine explosive Situation, einen gnadenlosen Quietismus – hier kann noch nicht die Goethe-Gesellschaft gemeint sein – und biedermeierliche Rückständigkeit. Für Heine ist Kants Kritik der reinen Vernunft das Schwert, womit der Deismus hingerichtet worden ist in Deutschland. Er vergleicht Kant mit Robespierre: „Das Schicksal … legte dem einen König, dem anderen Gott in die Waagschale“ (9, S. 117f).

Die von Winckelmann und Herder vorgegebene Ordnung, wonach Philoso-phie und Kultur die größere Wirkung auf das Weltgeschehen bewirken, lässt Heine sagen: „Laßt Euch… nicht bange sein, ihr deutschen Republikaner, die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die Kantsche Kritik, der Fichtesche Transzendental-Idealismus und die Naturphilosophie vorausging. Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können … Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt, aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht“ (a.a.O.). Es läßt sich, so Münkler, als Vorahnung für Marx und Engels lesen (10, S. 345), aber der deutsche Zeitgeist sieht hier schon Hitlers Kolonnen marschieren. Das ist zwar ideologischer Kurzschluß, aber, wie Münkler sagt, 1933 hat man Goethe ein Braunhemd übergezogen.

Die Kanonisierung Goethes und Schillers als olympisches Dioskurenpaar erfolgte durch die Herausgabe ihres Briefwechsels (18) und durch die Errichtung von Rietschels am 4. September 1857 eingeweihtes wunderschönes Nationaldenkmal, das den nationalen Stolz salvierte, und das tut er bis heute. Vor keinem Denkmal lassen sich vermutlich so viele Touristen fotografieren. Es war eine Denkmalspremiere: zwei Bürger, keine Herrscher (10, S. 347). Wie Münkler schreibt, hatte dieser Zugewinn von Nationalstolz durch Kunst den Preis der Selbstmusealisierung schon ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu bezahlen. Daran änderte auch die silberne Ära mit Franz Liszt, dem von seiner Schwester verwalteten Nietzsche, Graf Kessler und später dem Bauhaus nichts: die Olympier waren stärker. Seit 1920 entwickelten sich die nationalkonservativen, dann nationalsozialistischen Kräfte. Die Erneuerung der Kultur, die kulturelle Wiedergeburt kontrastierte sich gegen die künstlerische Avantgarde und war nicht an der internationalen Entwicklung, sondern an der völkischen Erneuerung interessiert (a.a.O., S. 349), nach Versailles ein nationales Wundenlecken. Dass die politische Rechte sich Weimar erkor, hatte, so Münkler, damit zu tun, dass die politische Linke sich in den Großstädten sammelte, während die politische Rechte in der ländlichen Provinz die Wiedergeburt suchte (a.a.O., S. 349f). Weimar wurde zum Inbegriff von Antiurbanität, Antikapitalismus und Antisemitismus. Es gab die Alt-, die Neukonservativen und die Völkischen. Neuheidentum, Thingstätten im bewaldeten Gebirge – für alles hatte Goethe zu stehen. 1937 war es dann Baldur von Schirach, der den völkischen Goethe verteidigte (a.a.O., S. 351f). Der Weimar-Mythos war aber nicht nur eine Sache der politischen Rechten, sondern wirkte auch in der SPD.

Die Weimarer Republik war weniger dem Weimar-Mythos als dem großen Hoftheater, der Abneigung der süddeutschen Abgeordneten gegen das ho-henzollerische Berlin und der Furcht vor Großstädten und Industriegebieten wegen der leichten Zugänglichkeit für das revolutionäre Arbeiterpotential geschuldet. Der Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau hatte nach dem Ersten Weltkrieg gehofft, dass sich von Weimar aus dank seiner Klassik ein günstigerer Friede verhandeln lassen könnte. Damit hatte er aber den Weimar-Mythos überschätzt. In seiner großen Rede zur Eröffnung der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, die man heute noch im Weimarer Stadtmuseum hören kann, berief sich Friedrich Ebert auf die Klassik und besonders auf Goethe (a.a.O., S. 353) als einigendes Moment. „Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst.“ „Die Freiheit ist der einzige Trost, der dem deutschen Volk geblieben ist, der einzige Halt, an dem es aus dem Blutsumpf des Krieges und der Niederlage sich wieder herausarbeiten kann.“ „Man stelle uns nicht vor die verhängnisvolle Wahl zwischen Verhungern und Schmach.“ „Lieber ärgste Entbehrung als Entehrung.“ Er plädierte für die Wiedervereinigung mit Österreich, die anders als später diejenige zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht glückte, mit den Worten: „Was die Gewalt im Jahre 1868 zerrissen“ habe, müsse wieder vereint werden. Mit Schiller: „Dann wollen wir sein ein einig Volk von Brüdern“. Am Schluss seiner Rede wird ihm der Mythos Weimar zum politischen Symbol und zur legitimatorischen Basis der neuen Republik. Er verlangte, dass die Lehren der Klassiker zu praktischen Problemlösungen genutzt würden. Diese Integrationskraft übte der Mythos Weimar aber in Wirklichkeit nicht aus. Münkler vermutet, es habe an einem von der Mehrheit der Gebildeten bewunderten Interpreten gefehlt (a.a.O., S. 354f).

Thomas Mann immerhin hat einige Male Weimar und Goethe genutzt. In seiner Rede zur Wiedereröffnung des Frankfurter Goethe-Hauses 1932 an-lässlich von Goethes 100. Todestag sagte er: „… ein gedankenvolles Volk wie das deutsche, braucht dazu das Gedächtnis seiner höchsten Vergangenheit“. Er spricht von einem Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur. „Die Erhebung des Selbstbewusstseins, die damit verbunden ist, kann ein leidendes Volk wie das deutsche wohl brauchen“. Es ist, als wolle er im letzten Moment der Hoffnung Ausdruck geben, es lasse sich der Mythos Weimar statt des Nationalsozialismus wählen. Es ist auch die Anerkennung der nationalen Traumatisierung durch Versailles und die Folgen.

1949, in seiner Rede „Goethe und die Demokratie“ ist Goethes Geistesaristokratie mit einer Distanz gegenüber den Massen verbunden. Er stellt dem Goethes Amerikabild ohne verfallene Schlösser und ohne unnützes Erinnern gegenüber und sieht in dem Landgewinnungsprojekt in Faust II die demokratische „Anschlussfähigkeit“ Goethes.

Karl Jaspers spricht in seiner Dankesrede anlässlich der Goethe-Preisverleihung 1947 von der „inneren Revolution unserer Seele“, die das Volk nach Nazi-Diktatur und Weltkrieg brauche, um nicht ehrlos, verachtet in der Erinnerung der Welt zu verschwinden. Goethe wird als Wegweiser reklamiert. Durch Goethe könne es den Deutschen gelingen, die Achtung der anderen Völker zurück zu gewinnen, was ja dann auch mit den Goethe-Instituten institutionalisiert wurde. Jaspers, so meint Münkler, habe ver-sucht, „den nationalsozialistisch kontaminierten Goethe zu entseuchen“, um ihn politisch wieder brauchbar zu machen (a.a.O., S. 356f).

Ganz anders ist der Zugang des späteren Kulturministers der DDR, Johannes R. Becher zu Goethe anlässlich von Goethes 200. Geburtstag. Man müsse Goethe „befreien von allen denen, die Goethe … für ihre veralteten Anschauungen in Beschlag nehmen.“ Goethe solle zum Begleiter einer politischen, sozialen und kulturellen Neugestaltung Deutschlands werden, die von der Arbeiterklasse getragen und am sowjetischen Vorbild orientiert sein werde. „Zwei Jahrhunderte hat die Geschichte dem Bürgertum Zeit gelassen, sich zu bewähren. Die Frist der Bewährung ist abgelaufen. Es ist klar, „dass wir Goethe, den Befreier, befreien müssen aus den Händen derer, die sein Erbe so schändlich verschwendet und so schamlos missbraucht haben“ (a.a.O., S. 359).

Wir sehen: Goethe als Zentralfigur des Mythos Weimar ist vielseitig verwendbar, eine Allzweckwaffe. Die Agitationssprache Bechers macht verständlich, warum Jochanan Trilse-Finkelstein im DDR-Weimar mit seiner Frage nach Anna Amalia auf sprechendes Schweigen stieß (27). Goethe als Fürstinnenknecht, das war das Letzte, was die DDR, die auf Goethe als Kulturwaffe nicht verzichten wollte, brauchen konnte, obwohl, wie er berichtet, im subversiven Schiller-Kränzchen in Weimar kein Zweifel herrschte, dass Anna Amalia und Johann Wolfang von Goethe ein Liebespaar waren.

Die Goethe-Gesellschaft blieb sich und Frau von Stein treu, über die Zeiten, in DDR und Bundesrepublik, allerdings aus verschiedenen Motiven. War Goethe in der DDR als Vorläufer und prospektiver Freund der Arbeiterklasse bzw. der Clique, die behauptete, für sie zu sprechen vonnöten, so brauchte die Goethe-Gesellschaft im vereinten Deutschland einen jesusmäßigen Goethe, der in leidenschaftlicher Seelenverwandtschaft der ewig kränkelnden, sexualfeindlichen Tochter einer bigotten Mutter verbunden war. Zwar soll es zu Beginn mit den thüringischen Mädchen und zusammen mit dem Herzog, danach mit Faustina und dem Bettschatz hoch hergegangen sein, aber dazwischen galt für die Sexualität zehn Jahre lang „going to sleep“, wie mein Computer sagt, wenn er sich verabschiedet(21).

Aber wie spricht Münkler? Der erste Satz seines großen Weimar-Mythos-Kapitels lautet: „Am Anfang war … Anna Amalia.“ Er rühmt ihre Herkunft, ihre epochale Bedeutung als Gründerin des Musenhofes, einer einzigartigen Institution, die bis heute die Identität der Deutschen mitbestimmt, die den kostenlosen Zugang der Bevölkerung des kleinen Landes zum Theater und zu der von ihr gegründeten, unter ihrem Namen späterhin weltberühmt gewordenen Bibliothek ermöglichte, und die mit dem Rat ihres aufgeklärten Braunschweiger Vaters eine solide Politik betrieb. Ähnlich wie Goethe in seiner Gedenkrede zum Tode Anna Amalias, die von allen Kanzeln des Landes verkündet wurde, spricht er vom Beginn einer neuen Ära (a.a.O., S. 329ff). Es wäre nur ein kleiner gedanklicher Schritt gewesen, diese Regentin, eine der bedeutendsten Frauen der deutschen Geschichte und den schon vor Weimar berühmten, zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden Dichter gedanklich zusammenzubringen. Die literarischen Quellen liegen ja reichlich zutage. Stattdessen spricht der Autor davon, dass Goethe mit Frau von Stein „eine enge geistige Beziehung“ pflegte, und dass sie Goethe Manieren beibringen musste, ohne die – also ohne Frau von Stein – „er seine spätere Rolle als Dichterfürst nie hätte übernehmen können.“ „Goethe hat sich im Umgang mit Charlotte von Stein verändert, er hat sie gebraucht, um sich zu einem Klassiker fortzuentwickeln“ (a.a.O., S. 333).

Es ist schwer verständlich, warum ein so brillanter Historiker an dieser Stelle das kritische Denken einstellt. Hätte er doch wenigstens erwägen können, dass der reichliche öffentliche Umgang mit der sehr viel begabteren und für Goethes Weimarer Karriere entscheidenden Herzoginmutter stil- und manierenbildend hätte sein können!

Nun kann man Münkler zugute halten, dass er bei einem so gewaltigen Unternehmen wie „Die Deutschen und ihre Mythen“ sich an gängige Quellen halten musste, und die sind, wie wir inzwischen wissen, vergiftet. Münkler vertritt hier einen Mythos, einen schlechten zwar, denn an seiner Stelle stünde der Logos bereit. Aber was ist mit Safranski, der vier Jahre später ein Buch über Goethe veröffentlichte (16)?

Der Mythos Charlotte von Stein darf nicht sterben
Es war von vornherein klar, dass dies ein Bestseller würde, denn der Autor hatte davor eine Reihe sehr gelungener Biographien und kulturhistorische Werke geschrieben, und sein schriftstellerisches Talent, seine Belesenheit und Akribie ließen das Beste erwarten. Es wurde auch ein schönes, gut lesbares und äußerst beliebtes Buch, welches das Verdienst hat, Goethe lebendig darzustellen und einem großen, den Klassikern über Jahrzehnte entwöhnten Publikum nahezubringen. Der Autor hat auch eine reichhaltige Bibliographie vorzuweisen, bis hin zu Fischer-Dieskaus hübschem Buch über Goethes Rolle als Intendant. Umso mehr fällt auf, wenngleich es leider nicht erstaunt, dass weder das Buch von Ettore Ghibellino (6), dessen 4. Auflage Safranski noch hätte verwenden können, noch die beiden Tagungsbände der Anna Amalia & Goethe Akademie (13; 14), in denen eine Fülle von Daten und Sichtweisen zu Goethe erstmals publiziert wurden, im Literaturverzeichnis vorkommen. Auch die beiden Vorträge über die Lida-Gedichte (18; 19; 23), dem darin entworfenen Bild des Objektes (Solms) und des Beziehungsverlaufs (Speidel), kommen hier nicht vor. Safranski hätte noch vor dem Druck von ihnen Kenntnis nehmen können. Carl Nedelmann machte mich darauf aufmerksam, dass bei Safranski die Liebesgedichte der ersten zehn Weimarer Jahr gar nicht vorkommen. Sie wären mit Charlotte von Stein zu wenig vereinbar gewesen.

Safranski erwähnt, die Ehe der Charlotte von Stein sei bei Ankunft Goethes in Weimar am Ende gewesen. Das ist im Erzählzusammenhang ein implizites motivationales Argument: Weil die Ehe am Ende war, konnte sich Charlotte von Stein in der vermuteten (welcher?) Weise Goethe zuwenden. Nun ist dies aber eine bloße Behauptung, die substantiell erst mit der vorzüglichen Studie von Jan Ballweg über Josias von Stein (1) unterfüttert werden könnte. Diese belegt aber etwas anderes: Die Ehe der Charlotte von Stein mit Josias von Stein bestand vor und nach der Ankunft Goethes als schwierige, aber schon durch die ökonomischen Bedingungen stabile Beziehung. Ballweg beschreibt Charlotte als „ewig nörgelnde Ehefrau“. Ob die beiden sich liebten, kann man bezweifeln. Josias war tüchtig, aber nicht unbedingt sympathisch. In den letzten Jahren stand die Ehe unter der Bedingung der psychiatrisch-neurologischen Erkrankung von Josias von Stein. Wie schon früher festge-stellt, war Charlotte von Stein ihm wie auch dem todkranken Sohn Ernst gegenüber von einer erschreckenden Gefühlskälte (1; 21). Aber obwohl es nicht die Absicht des nüchtern und akribisch beschreibenden Autors Ball-weg gewesen sein mag: Nach der Lektüre dieses lesenswerten Werkes, des ersten über Josias von Stein, kann man nie und nimmer glauben, dass Goethe dessen Frau zehn Jahre lang angeschwärmt, mit ihr gar eine Liebesbeziehung gehabt haben soll. Zu dieser Darstellung paßt dagegen Goethes schon erwähntes ironisches kleines Gedicht (24). Ballwegs Buch ist 2012 erschienen. Safranski hätte davon Kenntnis nehmen können, hat es aber offensichtlich nicht getan.

Safranski reiht sich in die wirkmächtige Partei der Goethe-Gesellschaft, der Klassikstiftung Weimar und der bröckelnden Mehrheit der Goethe-Kenner und -Liebhaber ein, für die Ghibellino des Teufels ist. Er nimmt eine opportunistische Position ein. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist das nicht redlich. Denn Safranski hat von Ghibellino Kenntnis genommen. In einem Zeitungsinterview auf ihn angesprochen, vertrat er, das sei noch nicht spruchreif (26). Davon kann jedoch, und das muss Safranski wissen, keine Rede sein. Ettore Ghibellinos Buch, das so wichtige neue Gesichtspunkte zu Goethe reichlich und systematisch belegt, und das im übrigen in mancher Hinsicht gründlicher ist als sein eigenes, ist natürlich immer spruchreif.

Versucht man, sich in Safranskis Position oder, wie man vermuten darf, in sein Dilemma zu versetzen, so ist sein in Jahren erworbener Anspruch, ein erfolgreicher Autor zu sein, nicht vereinbar mit der Diskussion einer These, die von der großen Mehrheit und von den meinungsbeherrschenden Organisationen totgeschwiegen und, soweit das nicht möglich ist, erbittert bekämpft wird, und zwar nicht mit sachlichen Argumenten, sondern mit Beschimpfungen (23). Wir kennen es aus Politik und Medien: wer sich gegen die dominierende sogenannte linksliberale Position stellt, erliegt dem tödlichen Faschismusverdacht und dem „Kampf gegen Rechts“  und ist erledigt. Rechts von der nach links driftenden CDU ist die Todeszone der deutschen Politik (28). Aber warum sollte sich Safranski einem solchen Risiko, zum Feind erklärt zu werden, aussetzen? Er fühlt sich ja – ein rechter Hätschelhans – wohl im Mainstream der Goetheaner und wird damit als Publizist glücklich. Er liefe anderenfalls auch das Risiko, dass die literarische Öffentlichkeit sich auf das Ghibellinische seines Buches stürzte, nur noch diesen Gott-sei-bei-uns diskutierte, Safranski einen unverzeihlichen Fehlgriff vorwürfe, und der gute Safranski verschwände hinter dem bösen Italiener (25). Das wird kein literarischer Liebling der lesenden Minderheit riskieren, es sei denn, er wäre ein sarazinischer Trotzkopf, der die Feindseligkeit genießen kann.

Immerhin hat Safranski die Tür zwischen Mythos und Logos angelehnt ge-lassen, so dass er eines Tages, falls Ghibellino allgemein anerkannt würde, sagen könnte, er habe die neue These nicht außer Acht gelassen. Er spricht davon, man habe gemunkelt, Frau von Stein habe Eifersucht erkennen lassen, und es habe Leute gegeben, die geglaubt hätten, etwas zu wissen. Das ist natürlich überaus schwach angesichts der vielen Belege in Ghibellinos Buch, die er hätte lesen können und vermutlich sogar gelesen hat, wohlweislich ohne davon Gebrauch zu machen. Natürlich kommt in seinem Buch die berühmte Stelle in Eckermanns Gespräch mit Goethe nicht vor, die billigerweise nicht daran zweifeln lässt, dass Goethe eine Liebesnacht mit Anna Amalia verbrachte (3; 7.Oktober 1827, S. 609-611). Goethe hat das ja in aller wünschenswerter Deutlichkeit erzählt. Der Namensnennung bedurfte es gar nicht. Diese Lücke bemerkt aber kein Leser, der nicht mit Ghibellinos Buch vertraut ist. So kann er auch nicht von den Berichten der Gräfin Görtz, der Gräfin Giannini und der Gräfin Egloffstein Gebrauch machen, diesen munkelnden Damen.

Er kann aber auch nicht die einschlägigen Texte richtig lesen. So berichtet Safranski, während Goethe Charlotte von Stein heftig angeschwärmt habe, habe sie sich Zimmermann, dem gemeinsamen Freund gegenüber sehr kri-tisch gegen Goethe geäußert. Das Phänomen haben ältere Autoren auch schon beobachtet und es als Charakteristikum der Art von Beziehung zwi-schen Goethe und Frau von Stein verstanden (24). Sie verfügten noch nicht über die These, wonach Charlotte von Stein gar nicht die Geliebte Goethes war. Aber Safranski hatte mehr als eine Dekade Zeit, sich mit dieser auseinanderzusetzen. So wäre er in den Dokumenten der Anna Amalia & Goethe Akademie auf das schon erwähnte Gedicht gestoßen, in dem Goethe Charlotte von Stein ironisch und distanziert mit wenigen Worten treffend charakterisiert (a.a.O.). So schreibt man nicht über eine Person, der man in Briefen mit schwärmerischer Liebe begegnet. Er hätte von einem Monat lesen können, in dem Goethe der „Frau v. Stein“ 15 verliebte Billette – ohne Anrede wie meist – schickt, während im selben Monat Charlotte von Stein gegenüber Knebel klagt, wie elend es ihr gehe (22). Das ist natürlich nicht dieselbe Person, auch nicht, wenn Goethe Frau von Stein um die Beurteilung der italienischen Fassung des „Werther“ bittet, obwohl sie kein Italienisch spricht (6), oder wenn Goethe „Frau von Stein“ ermahnt, sie müssten noch die griechischen Texte lesen, obwohl nicht sie, sondern Anna Amalia Altgriechisch lernt (5; 6; 21).

All das muss Safranski übersehen, um Liebkind der Goethe-Gesellschaft und der an Frau von Stein seit jeher glaubenden Goethefreunde zu bleiben. Dafür opfert er zu viele kritische Überlegungen, und er unterschätzt Goethe. Dieser also merke nicht, dass Frau v. Stein sich über ihn kritisch äußert, auch nicht, dass sie meint, es wäre besser, wenn es keine Männer gäbe (6; 22). Unentwegt schwärme er sie trotzdem an. Indem Safranski sich der ghibellinischen These verweigert, bleibt er an vielen Stellen unter seinem publizistischen Niveau. So in seinem ausführlichen Kapitel über Tasso. Zwar sieht er, dass Tasso und Antonio die zwei Rollenfacetten Goethes sind, aber hartnäckig vertritt er, dass die Prinzessin Leonore die Züge der geliebten Hofdame Charlotte v. Stein trage, aber was der sprichwörtliche Blinde mit Krückstock sähe, übersieht er, nämlich dass Tasso die Prinzessin und nicht die Hofdame liebt, und dass die Veröffentlichung seiner Liebe zu ihr zur Katastrophe führt. Er fragt sich auch nicht, was Goethe bewogen habe, den beiden Frauen denselben Namen – Leonore – zu geben (6; 21). Vergleicht man die Tasso-Kapitel von Ghibellino und Safranski, so ist ersteres materialreicher und subtiler. Mit einer falschen Theorie kann man eben keinen großen Text schreiben. Warum Herzog Carl August Goethe von der Veröffentlichung des Tasso abriet, und warum er das Werk, als es doch aufgeführt war, ein „Kunststück“ nannte (6), kann von Safranski natürlich nicht erörtert werden. Das setzte nämlich den Bezug zu Anna Amalia voraus.

Die Beziehung Goethes zu seinem Dienstherrn und Freund Herzog Carl August ist, weil dieser Bezug von Safranski nicht hergestellt wird, im Zusammenhang mit der Flucht nach Italien eigenartig verzeichnet. Goethe will unbedingt nach Italien, und damit der Herzog ihn nicht zurückrufen kann, schreibt er ihm erst aus Rom. – In Wirklichkeit schrieb er ihm allerdings schon aus Verona. – Was ist das für ein infantiles Schulschwänzerbürschchen, dieser Safranski-Goethe! Nicht nur merkt er nicht, dass ihn Charlotte v. Stein kritisiert, er haut auch heimlich vor seinem obersten Dienstherrn ab und entmachtet ihn damit. Eine unwürdige Handlungsweise des bis dahin vielmächtigen Ministers und zweiten Mannes im Staat.

Folgt man Ghibellino, so wurde die heimliche Beziehung Goethes zu Anna Amalia von einem zunächst Unbekannten verraten. Goethe glaubte den inzwischen im Dienste Friedrichs II. befindlichen Grafen Görtz als Quelle annehmen zu müssen, was sich dann als falsch erwies. Fritz von Stein war es, und Goethe spricht davon, wenn er dem Herzog aus Italien schreibt, die Augen des Fritz machten ihm Sorgen. Es ist die verschlüsselte Sprache zur Überwindung der Geheimdienste, die ihn bis nach Rom verfolgten. Diese gedankliche Kategorie, über die er bei Stefan Weiß hätte nachlesen können (28), ist Safranski unbekannt, ebenso wie das, was Ghibellino das „Blendwerk“ nennt. Wenn nämlich Goethe und Anna Amalia ein Liebespaar waren, musste das verheimlicht werden. Die Verheimlichungsmethoden hatten ihre öffentliche Kehrseite, die aber nur verstanden werden kann, wenn das Motiv der Verheimlichung und ihre Mechanismen verstanden werden (6). Safranski versteht sie so wenig wie die Goethe-Gesellschaft und die Klassikstiftung Weimar, und deshalb unterliegen sie alle ihren Fehldeutungen und retten Frau v. Stein damit ihre mythische Bedeutung. Ihnen allen fehlt es an der Fähigkeit, in Kategorien der Intrige zu denken (26). Bei Safranski ist das besonders schade, weil er die Chance einer dekadelangen Recherche gehabt hätte, um ein besseres Buch zu schreiben. Es hätte nur jener Art von Mut bedurft, die sich ein Bestsellerautor unter den beschriebenen Umständen nicht leisten kann. Das Publikum merkt den strukturellen Mangel nicht, weil der Autor ein so routinierter Literat ist, dass er die logischen Brüche übertünchen und ein abgerundetes Goethebild liefern kann.

Indessen produziert er auf Seite 206 folgenden Eiertanz: „Als er wieder einmal bei Amalie auf Schloß Ettersburg war, schreibt er hinterher an Charlotte: Ich sehe nun wie meine Gegenwart sie plagt, und vermerkt im Tagebuch unter dem Sonnensymbol (das für Charlotte steht): finsternis. Über den Besuch auf Schloß Ettersburg aber hatte er notiert: Herrliche Nacht. Ob Charlotte wirklich Grund zur Eifersucht hatte, ob also Goethe gleichzeitig ein amouröses Verhältnis zu Amalie unterhielt, wissen wir nicht, wenn es auch schon damals Leute gab, die so taten, als wüssten sie es (26). Herrliche Nacht auf Ettersburg! Welche Zweifel gibt es da noch? Aber Safranski war es auch nicht aufgefallen, dass das erste von zwei Gedichten mit dem Titel „Wanderers Nachtlied“ im bittersten Winter am Fuß der Ettersburg entstanden war (23).

Der Mythos braucht den Logos
Wir haben gesehen: Mythen sind allgegenwärtig. Sie sind Erzählungen, die identitätsstiftend und sicherheitsbildend wirken. Sie brauchen Zeit für die Entwicklung ihrer mythischen Wirksamkeit und sind wegen ihrer kontinui-tätsbildenden Funktion haltbar. Sie dienen unterschiedlichen Zwecken und existieren auf unterschiedlichen Niveaus, von der Erklärung der Entstehung der Menschheit bis zum individuellen, das Selbstbild stützenden Narrativ.

Der Weimar-Mythos geht auf eine von Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach begründete glanzvolle kulturelle Ära zurück. Er wirkt, unter wechselnden weltanschaulichen und politischen Einflüssen und deren Sichtweisen bis heute, und deshalb ist Anna Amalia eine der bedeutenden Gestalten und eine der bedeutendsten Frauen der deutschen Geschichte. Da sie auch nach allgemein anerkannter Lesart eine enge Beziehung zum bedeutendsten Dichter deutscher Sprache hatte, wäre es naheliegend, gar selbstverständlich, dass sie und  ihre Beziehung zu Goethe ein zentrales Thema des Weimar-Mythos wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Anna Amalias und Goethes Beziehung zu ihr werden trotz aller vorhandenen Quellen mehr oder weniger ausgeblasst, und Goethe wird mit einer Hofdame abgefunden.

Charakteristisch ist die Darstellung der Frauen in Goethes Leben durch Wikipedia. Hier kommen sie alle vor, nur Anna Amalia nicht. Es ist eine groteske Situation. In der Rezeption von Goethes Leben der ersten zehn Weimarer Jahre  spielt an ihrer Stelle Charlotte v. Stein die zentrale Rolle.  Ihre Person und ihre Beziehung zu Goethe werden aber in derart widersprüchlichen Eigenschaften und Kontexten erzählt, dass jeder, der etwas von Psychologie und Biographik versteht, darin einen strukturellen Rezeptionsfehler bemerken muss. Das wäre unter der Wirkung des Logos auch der Fall. Es handelt sich aber um einen Mythos, der alle Eigenschaften des Mythos besitzt, und das heißt  u.a., dass er nicht nach dem Logos seiner Begründung fragt, ja diese Frage im Dienste seiner Erhaltung bekämpft. Die Vorstellungen sind längst in den Aggregatzustand des Glaubens übergegangen (23; 25; 26). Wir sehen hier die Gehilfen jedes Mythos am Wirken: die Ritualisierung, mit der die Rolle Charlotte von Steins stereotyp bekräftigt wird, und die Tabuisierung, mit der bekämpft wird, wer den Mythos stört (2).

Etwas Besonderes an diesem Mythos aber, das ihn von vielen anderen My-then unterscheidet, sind die Gründe für seine Entstehung. Ettore Ghibellino hat sie erstmals genau und systematisch beschrieben. Das ist eines seiner wichtigsten Verdienste, aber auch sein „Verbrechen“ am Mythos Goethe-Charlotte von Stein. Der Paradigmenwechsel, mit dem er den Mythos auflöst, gründet auf der konsequenten Anwendung zweier Begriffe und ihrer analytischen Potenz, nämlich des „Staatsgeheimnisses“ und des „Blendwerks“. Mit Hilfe dieses begrifflichen, sich ergänzenden Werkzeugs lassen sich die vorhandenen Daten neu lesen und plausibler, d. h. widerspruchsfreier begründen. Das ist sein Hauptverdienst.

Die Wissenschaft hat hier zwei Aufgaben: das Verständnis des Mythos der Beziehung Goethe-Charlotte von Stein, und die systematische Erforschung der Daten und ihrer Kontexte. Beide Aufgaben werden von den beiden gro-ßen Weimarer Gesellschaften, der Klassik-Stiftung Weimar und der Goethe-Gesellschaft verfehlt, ja bekämpft, weil sie im Glauben an den Mythos und nicht mit dem Ethos von dessen wissenschaftlicher Erforschung leben. Insofern sind es keine wissenschaftlichen Organisationen, sondern, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, Glaubenskongregationen (26), also die Priesterschaft des Mythos.

Der Mythos Goethe-Charlotte von Stein ist mit dem Erscheinen von „Goethes Briefe an Charlotte v. Stein“ (5), lange nach dem Tode der Protagonisten, entstanden, und zwar durch zwei Rezeptierungsfehler der Fachleute:  Ohne zu prüfen, ob es sich wirklich um Briefe Goethes an diese Adressatin handelt, glaubten sie daran. Es fehlte ihnen zweitens das theoretische Rüstzeug des Paradigmas von „Staatsgeheimnis“ und „Blendwerk“ und der Notwendigkeit der Intrige, obwohl das Verschwinden nahezu des gesamten einschlägigen Schriftwechsels auf die Spur hätte führen können (6; 23). So waren sie von vornherein außerstande, Logos statt Mythos zu produzieren. Das Erscheinen des Buches von Ettore Ghibellino mobilisierte den Mythenverteidigungsgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Goethekenner und -liebhaber (25),  ganz analog dem neuerlichen Erstarken des Zusammengehörigkeitsgefühls aller etablierten Parteien in der Bundesrepublik von rechts bis links angesichts der Entstehung eines neuen Paradigma mit einer neuen Partei. Es sind exakt dieselben Abwehrmechanismen: Totschweigen, Verteufelung, moralische Diffamierung und Mythenverteidigung. Allerdings ist zu bedenken, dass es sich in der Politik nicht um die Ergründung von Wahr-heit, sondern um die Konkurrenz von politischen Konzepten und deren Überleben handelt.

Zum ersten Mal in der Mythenforschung kann die Rolle der Ökonomie für die Verteidigung eines Mythos beschrieben werden: die Klassik-Stiftung Weimar erhält große Summen, die sie nicht nur ökonomisch zu schlecht verwaltet, wie das Stiftungsmitglied Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach kürzlich in einem Interview feststellte (15), sondern sie setzt, wie auch die Goethe-Gesellschaft, die Verteidigung des Mythos an die Stelle ihres Auftrags der wissenschaftlichen Forschung. Das mächtige ökonomische Motiv für die Erhaltung des Mythos ist aber wohl, worauf Ghibellino hinweist (25), dass alle Goethe-Gesamtausgaben, Biographien und ein großer Teil der Sekundärliteratur umgeschrieben werden müsste, und das ist nicht nur eine Kränkung für die Autoren, sondern eine ökonomische Verlegerkatastrophe. Ein großes Projekt der Klassik-Stiftung Weimar, die Herausgabe von Goethes 20 000 Briefen, wäre, Ghibellino zufolge, schon vor Fertigstellung Makulatur, und Millionen Steuergelder wären damit fehlinvestiert. Man wird sehen, ob das ökonomische Interesse dem Mythos weiter beispringt.

Mythen sind unausweichlich. Auch die zukünftige Goethe-Forschung wird mythenträchtig sein, weil sie einen Erzählzusammenhang herstellen muss. Ein daraus entstehender Mythos müsste aber nicht so sehr wie derzeit noch im Widerspruch zu der Evidenz des zutageliegenden Logos stehen.

Literatur:
1. Ballweg, Jan: Josias von Stein. Stallmeister am Musenhof Anna Amalias. Ein vergessener Aspekt der Weimarer Klassik. Matrix Media, Göttingen 2012

2. Bauch, Jost: Mythos und Entzauberung. Politische Mythen der Moderne. Gerhard Hess, Bad Schussenried 2014

3. Bergemann, Fritz (Hrsg.):  Eckermann Johann Peter, Gespräche mit Goe-the in den letzten Jahren seines Lebens. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig 1981

4. Boothe, Brigitte: Das Narrativ. Biographisches Erzählen im psychoanalytischen Prozess. Schattauer, Stuttgart 2011

5. Fränkel, Jonas (Hrsg.): Goethes Briefe an Charlotte von Stein. 3 Bde. Akademie, Berlin 1960

6. Ghibellino, Ettore: Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe. 4. Aufl. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2012

7. Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit. Werke Bd. 10, Hamburger Ausgabe, S. 49. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2000

8. Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Werke Bd. 11, Hamburger Ausgabe, S. 167f. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2000

9. Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Sämtliche Werke, Bd. 8/1, Düsseldorfer Ausgabe, S. 117f. Hoffmann und Campe, Hamburg 1979

10. Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. C. H. Beck, München 1985

11. Jamme, Christoph, Matuschek Stefan (Hrsg.): Handbuch der Mythologie. Philipp von Zabern, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014

12. Münkler, Herfried: Der Mythos des deutschen Bildungsbürgertums. In: Die Deutschen und ihre Mythen. 3. Aufl., S. 329-361. Rowohlt, Berlin 2009

13. Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.): Alles um Liebe. Anna Amalia und Goethe. 1. Interdisziplinäres Symposion 2007. Tagungsband. Dr. J.A. Denkena, Weimar 2008

14. Nagelschmidt, Ilse, Weiß, Stefan, Trilse-Finkelstein, Jochanan (Hrsg.): Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt. Anna Amalia und Goethe. 2. Interdisziplinäres Symposion 2009. Dr. J.A. Denkena, Weimar 2010

15. Prinz von Sachsen-Weimar-Eisenach: „Wie kann ich mir da ein Bau-haus-Museum leisten“. Thüringer Allgemeine, 21. Oktober 2014

16. Safranski, Rüdiger: Goethe. Hanser 2013

17. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Sämtliche Werke, 5. Bd., S. 570-669, 7. Aufl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984

18. Seidel, Siegfried: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. 3 Bde. C.H. Beck, München 1984

19. Solms, Wilhelm: Das Bild der Geliebten in Goethes Versen an Lida. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2012

20. Solms, Wilhelm: Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten. Literatur Wissenschaft de, Marburg 2014

21. Speidel, Hubert: Ist Eisslers „Goethe“ Goethe? In: Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.): Alles um Liebe. Anna Amalia und Goethe. 1. Internationales Symposion. Tagungsband S. 19-43. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2008

22. Speidel, Hubert: Auf dem Weg zu einem Psychogramm der Empfängerin von Goethes Liebesbriefen. In: Nagelschmidt, Ilse, Weiß, Stefan, Trilse-Finkelstein, Jochanan (Hrsg.): Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt. Anna Amalia und Goethe. 2. Internationales Symposion 2009, S. 151-184. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2010

23. Speidel, Hubert: Warum muß man Ghibellino bekämpfen, wenn man ihn doch nicht widerlegen kann (2012). In: Speidel, Hubert: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2013). Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, 2. Aufl., S. 41-69. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2012

24. Speidel, Hubert: Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012). In: Speidel, Hubert: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2013), 2. Aufl., S. 25-40. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2012

25. Speidel, Hubert: Zur Ideologie der Goethe-Gesellschaft und der Klassik Stiftung Weimar. In: Speidel, Hubert: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2013), 2. Aufl., S. 7-21. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2013 und in Solms, Wilhelm, Speidel, Hubert, Nedelmann, Carl, Ghibellino, Ettore: Ein Jahrzehnt Anna Amalia und Goethe Forschung (2003-2013). Tagungsergeb-nisse 2013, S. 71-85. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2014

26. Speidel, Hubert: Einführung zur 7. Herbsttagung der Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar am 19. Oktober 2013. In: Solms, Wilhelm, Speidel, Hubert, Nedelmann, Carl, Ghibellino, Ettore: Ein Jahrzehnt Anna Amalia und Goethe Forschung (2003-2013). Tagungsergebnisse 2013, S. 9-15. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2014
27. Trilse-Finkelstein, Jochanan: Goethe und Anna Amalia: ein neues klassisches Liebespaar der Literatur und die absurd-humane Rolle der „Frau von Stein“.  Dr. A.J. Denkena, Weimar 2008

28. Weiß, Stefan: Spionage in der Goethezeit. In: Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.): Alles um Liebe. Anna Amalia und Goethe. 1. Interdisziplinäres Symposion 2007, S. 45-58. Dr. A.J. Denkena, Weimar 2008

29. Zastrow, Volker: Schande. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. Oktober 2014