Adolf-Ernst Meyer und die Entwicklung der Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland

Studientag des Adolf-Ernst-Meyer-Instituts 5. Dezember 2015 Wer war Adolf-Ernst Meyer? Aus Anlass des 90. Geburtstags von Adolf-Ernst Meyer Download der Datei Hubert Speidel Adolf-Ernst Meyer und die Entwicklung der Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland Adolf-Ernst Meyer hat sich bei einer Veranstaltung einmal als Gastarbeiter bezeichnet, und das heißt, wenn man den Vorhang dieses für ihn typischen Understatements lüftet, unter anderem, dass er in Zürich bei berühmten Lehrern wie Manfred Bleuler, Hess, Bally, Boss und anderen eine vorzügliche Ausbildung in Psychotherapie, Psychoanalyse, Neurologie, Neurochirurgie und Innerer Medizin erhalten hatte, – der Nobelpreisträger Hess war sein Doktorvater, Bally sein Lehranalytiker -, bevor er 1957 nach Hamburg kam, um in der damaligen psychoanalytischen Abteilung von Ulrich Ehebald im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll psychotherapeutische Praxiserfahrung zu erwerben. Folgt man seiner eigenen Darstellung, so erscheint es eher wie ein glücklicher Zufall, dass er uns in Hamburg erhalten blieb: Es fehlten ihm zur Facharztanerkennung noch einige Monate Innerer Medizin, und eine DFG-Stelle bei Arthur Jores bot sich an. Bei Dienstantritt am 1.Mai 1958 nahm ihn sein Partner der folgenden Zeit, ebenfalls mit einer DFG-Forschungsstelle bedacht, beiseite. Es war Detlef von Zerssen, dem durch einige Monate Erfahrung am Universitätskrankenhaus Eppendorf die Naivität schon abhanden gekommen war. In einem Café an der Alster, so wird berichtet, vermutlich bei Bobby Reich, gab er dem zwar schon durch hämische Bemerkungen anderer über den gemeinsamen Chef Arthur Jores und dessen psychosomatischer „Narretei“, wie es hieß, etwas vorbereiteten Schweizer Gastarbeiter den letzten Verhaltensschliff. Ich zitiere v. Zerssens Richtlinien im Originalton Adolf-Ernst Meyers: „1. Im Zweifelsfall fragen Sie mich. 2. Wann immer Sie etwas veranlassen, tun Sie es schriftlich und mit Kopien an Chef und alle vier Oberärzte. 3. Solange Sie eine Krankengeschichte nicht vollständig ausgewertet haben, schließen Sie sie weg. 4. Wenn ein Oberarzt Sie besonders freundlich grüßt, ist höchste Gefahr im Verzug, überlegen Sie, wo Sie verwundbar sein könnten. 5. In allen übrigen Fällen tritt Regel 1 in Kraft.“ Man muss sich die Situation damals vorstellen: Die Oberärzte von Jores hatten ihn als einen hervorragenden Endokrinologen erlebt und waren enttäuscht über die seltsame psychosomatische Liebhaberei des Chefs. Es war die Kriegsgeneration, soweit sie Rußland überlebt hatte. Einer davon, der Kardiologe Gadermann, gehörte zu den höchstdekorierten Frontoffizieren des 2. Weltkrieges; die Umgangsweisen waren dementsprechend. Von Zerssen zitiert einen von ihnen: „Lassen Sie die Finger davon, wir haben noch jeden abgeschossen!“ Ich weiß nicht, ob es jener Kriegsheld war, den ich schon als Kind bewunderte, weil er hunderte feindlicher Flugzeuge abgeschossen hatte. Seine größte Heldentat war, dass er hinter den russischen Linien landete, weil dort sein Chef Udet abgestürzt war und er ihn rettete. Gadermann war übrigens ein ausgesprochen liebenswürdiger, unintriganter Mensch. Von ihm wird überliefert, dass er ohne anzuklopfen in Adolf-Ernst Meyers Zimmer trat und sich damit entschuldigte: „Die reden doch bloß.“ In Adolf-Ernst Meyer waren sie aber an den Falschen geraten – in unserem Sinne muss man sagen, an den Richtigen. Schließlich hatte er sich schon beim schweizerischen Militär als verlachter Städter gegen die groben Bauernburschen behaupten müssen, dem Vernehmen nach sehr erfolgreich. Man kann es den hartgesottenen Joresschen Oberärzten nicht verdenken: Die Joressche Psychosomatik war eine große Pioniertat, verdienstvoll, begeisternd und mitreißend für Studenten und Anfänger wie mich, aber sie war auch naiv, und das nahmen seine erfahrenen Kämpen wohl wahr. Adolf-Ernst Meyer auch. Charakteristisch in diesem Sinne war der Forschungsauftrag an Adolf-Ernst Meyer und Detlef von Zerssen: Sie sollten sich mit dem Hirsutismus beschäftigen, von dem Jores meinte, es gäbe keine endokrinologischen Befunde, und deshalb sei es wohl eine psychosomatische Erkrankung, also im Sinne einer  Psychogenie. Wie Adolf-Ernst Meyer und Detlef v. Zerssen sich nun aber dem Forschungsgegenstand näherten, das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Sie fielen nicht auf eine psychosomatische Mythologie herein. Sie begründeten vielmehr an diesem Beispiel eine moderne, interdisziplinäre, empirische Psychosomatik, und sie waren damit wegweisend. Genauer gesagt: Sie eröffneten am Universitätskrankenhaus Eppendorf der Psychosomatik überhaupt erst eine Zukunft. Sie verschafften sich den Respekt der Kliniker, weil sie, wie es wohl etwas karikierend heißt, wussten, was Mittelwert und Streuung ist, obwohl sie sich, was von heute aus gesehen erstaunlich klingt, in die Statistik selber erst einarbeiten mussten. In der Meyerschen Darstellung lautet es so: v. Zerssen sei noch eine größere statistische Flasche gewesen als er, während v. Zerssen anerkennend feststellte, dass Adolf-Ernst Meyer in der Schule doch wohl einen sehr soliden mathematischen Unterricht gehabt haben müsse. Bevor ich in aller gebotenen Kürze die wichtigsten Forschungsprojekte Adolf-Ernst Meyers nenne, deren erstes eben das Hirsutismus-Projekt war, mit dem er sich auch habilitierte, muss ich die Beziehungen zum Psychologischen Institut nennen, die sehr wichtig wurden. Hier wirkten bedeutende Professoren: Bondy, sein Nachfolger Hofstätter, Lienert, Pavlik, Tausch, und einige von ihnen erkannten offensichtlich die herausragenden Fähigkeiten Adolf-Ernst Meyers. Lienert ermutigte ihn zum Psychologiestudium, das er 1970 mit der Promotion in Konstanz abschloss. Ich erwähne das nicht aus currikulärem Interesse, sondern weil es ein Beleg für die Einsicht Adolf-Ernst Meyers in die wichtigen methodischen Ressourcen der klinischen Psychologie war, die es zu nutzen galt. Wenn ich es richtig verstehe, entsprang diese Haltung den ersten Auseinandersetzungen im UKE und den Erfahrungen mit dem Hirsutismus-Projekt, und er hat sich daran auch durch Anfeindungen, die in dieser Hinsicht nicht aus der Klinik, sondern aus der psychoanalytischen Gemeinde kamen, nie anfechten lassen. In der Forschung war er akribisch und unerbittlich, und so wurde er einer der bedeutenden Vorkämpfer und Repräsentanten moderner psychosomatischer Medizin. In seiner Selbstdarstellung  „30 Jahre Psychosomatik“ nimmt von allen Forschungsinteressen das Hirsutismus-Projekt...

Mythos und Logos in Weimar

8. Goethe-Herbsttagung Weimar, 25. Oktober 2014 Perspektiven der Anna Amalia und Goethe-Forschung Der Mythos der faulen Äpfel Der Mythos sagt: Schiller hatte faule Äpfel in seiner Schreibtischschublade. Hier spricht der Mythos offenbar, wie es die neuere Mythos-Forschung vertritt, eine Wahrheit aus. Der Logos sagt:  Friedrich Schillers Vater Johann Kaspar, der auch mein Vorfahr ist, war nicht nur Barbier, Wundarzt, Offizier und Hofgärtner des Herzogs Carl Eugen, sondern auch ein bedeutender Pomologe. Auf ihn geht zurück, dass an den württembergischen Landstraßen, wie ich es als Kind noch kannte, links und rechts Apfel- und Birnbäume standen, eine Allmende-Wirtschaft, damit auch die armen Leute ihr Obst haben und ihren Most herstellen  konnten. Äpfel waren damals ein Grundnahrungsmittel, und nach der Ernte wurden sie auf dem Boden, den Zwischenböden und im Keller aufbewahrt. Die moderne Wirtschaft hat das überflüssig gemacht, und die wenigen Apfelsorten, die uns in den Supermärkten noch angeboten werden, sind auf Schönheit und Makellosigkeit hin gezüchtet. Dem wurde alles geopfert, was Äpfel früher ausmachte: Krankheitsresistenz, Vielfalt, Geschmack und Duft. Die Äpfel, die wir kaufen, aber nicht lagern, schmecken mehrheitlich nach nichts und duften überhaupt nicht. Wie sagte jener holsteinische Appelbuer: He kann de Einheitsappeln ut´n Supermarkt nich utstahn. He bit leever in sien Harvstprinz rin. (Die alte englische Sorte Ribston Pepping, die schon Johann Kaspar Schiller rühmte, ist allerdings noch besser.) Heutigen Generationen fällt das nicht auf, weil sie es nicht anders kennen. Sie wissen nicht, dass Äpfel köstlich duften würden, wenn man sie ließe. Die Häuser früherer Zeiten waren von September bis Weihnachten von dem Parfum der vielen alten Apfelsorten erfüllt. Die Äpfel faulten natürlich, damals wie heute, aber da wir keine Vorratswirtschaft kennen, erleben wir das nicht. Wir wissen deshalb auch nicht mehr, dass faule Äpfel alter Sorten noch einige Zeit genauso duften wie frische Äpfel. Wenn Schiller also Äpfel in seiner Schublade aufbewahrte, so war das keine Koprophilie, sondern sie hatten die Funktion eines Nahrungsmittels, sie waren eine Ehrung seines Vaters, sie halfen gegen das Heimweh, und sie waren ein exquisites ästhetisches Element. Wenn wir über Schillers faule Äpfel reden, so können wir uns damit auf die Wahrheit des Mythos berufen, aber es fehlt uns der Kontext, den der Logos liefert. Die Wahrheit des Mythos Dass Mythen sich mit faulen Äpfeln beschäftigen, ist eher die Ausnahme. In der Mythosforschung lassen sich vielmehr zunächst Mythen großer Reichweite, die Gründungsmythen wie das Chinesische Weltei, von den Mythen mittlerer Reichweite, z. B. der Gründung von Nationen unterscheiden (2). Schillers Äpfel gehören zu den Mythen geringer Reichweite. Noch nicht im Zusammenhang mit der Mythosforschung gesehen, wiewohl ein entwickelter Forschungszweig, ist die psychologische Narrationsforschung – ein vorläufig bestehender Mangel der in Bezug auf die Mythosforschung heutzutage notwendigen Interdisziplinarität. Die individuelle Erzählung, das Narrativ, ist nämlich ein privater Mythos, den wir durch die um Kredit beim Zuhörer bemühte Darstellung unserer Geschichte oder einer Geschichte, deren Held oder Opfer wir sind, entwickeln (4). Das Narrativ dient der Stabilisierung unseres Narzißmus und unserer sozialen Stellung. Insofern ist das Narrativ als Mythos dem politischen Mythos verwandt, der ein Mittel der Stabilisierung, des kollektiven Narzißmus, der nationalen Identität und des solidarischen Zugehörigkeitsgefühls als Mittel der kollektiven Kohärenz ist. Mythen sind gespeichertes Wissen. Im Chaos bilden sie ein Ordnungsprinzip und machen Unvertrautes vertraut. Es sind „Basiserzählungen“, aus denen sich Ritualisierungen und Tabus ableiten, die das menschliche Zusammenleben stabilisieren  (2). Die Funktion des Mythos, nämlich der kollektiven Stabilisierung, wurde durch die Aufklärung erschüttert, die Welt wurde – ein Begriff von Max We-ber – entzaubert. Aus Unverfügbarem wurden Optionen. Wir leben seitdem, wie Auguste Comte sagte, im Zeitalter des Positivismus. Aber die Ersetzung der Metaphysik, des Mythos, des Glaubens, durch wissenschaftlich-rationale Denkgebäude ist selbst ein Mythos, oder, wie es Adorno und Horkheimer formulierten: wenn man Mythen abschafft, entstehen neue Mythen (a.a.O.). Adorno selbst war der Ursprung eines folgenschweren Mythos: mit scheinbarem Logos, nämlich einer schlechten wissenschaftlichen Studie über die autoritäre Persönlichkeit. Damit war er der Miturheber der Reeducation, deren Folgen Politik und Medien bis heute dominieren und in dem nationalen Mythos einer postheroischen und antifaschistischen Bundesrepublik mündeten (a.a.O.). Die Mythen also wird man nicht los, nicht die guten und nicht die schlech-ten, und wenn wir von Freiheit, Gerechtigkeit, Souveränität, Zukunftsfähigkeit, Nachhaltigkeit (a.a.O.), Transparenz, Integration, Inklusion, Emanzipation und dergleichen lesen, so sind es lauter Mythen und Kleinmythen. Auf die Illusionen der Aufklärung folgte die Romantik, und auf die Dominanz der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts folgten als Reaktion nicht nur die Psychoanalyse, die ihrerseits auch Mythenforschung ist, sondern ein bis in die neueste Zeit reichendes wissenschaftliches Interesse an den Mythen, mit bedeutenden Forschern: Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, Walter F. Otto, Karl Kerényi, Mircea Eliade, Claude Lévi-Strauss, Kurt Hübner und anderen. Der Hauptgegenstand der Forscher waren bis in die neueste Zeit zunächst die griechischen Mythen, die erstmals in ihrer Spätphase bei Hesiod und in Ilias und Odyssee notiert wurden, nicht jedoch die viel älteren chinesischen. Die Forscher verfolgten natürlich nicht die populäre abschätzige Position des Mythos als Unwahrheit, sondern – so der Titel eines Hauptwerkes von Hübner – „Die Wahrheit des Mythos“ (10). Der Mythos ist eine Erzählung, die Allgemeingut geworden ist, deshalb eine überdauernde Wirkung ausübt und damit wiederum ihre eigene Wahrheit erzeugt. Die Tell-Erzählung beispielsweise  ist zu einem nationalen, identitätsstiftenden Stabilisator geworden, der die Schweiz trotz dreier unterschiedlicher Sprachen eint und u. a. auch vor den Zumutungen der EU schützt (2). Die mythische Erzählung schafft ein Verständnis der Zusammenhänge, die durch begriffliche Abstraktion und Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend...

Der tödliche Ödipuskomplex

Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar Jahresband 2015 Wilhelm Solms, Hubert Speidel, Carl Nedelmann, Ettore Ghibellino, Michael Hampe: Perspektiven der Anna Amalia und Goethe Forschung – Ergebnisse 2014 Der tödliche Ödipuskomplex Graf Mirabeau – Heinrich Schliemann – Gertrud Kolmar Theorie des Ödipuskomplexes Der von Freud benutzte griechische Mythos als Prototyp der zentralen Entwicklungsaufgabe auf dem Weg zur Normalität wie zur Neurose am Ende der frühen Kindheit ist in der fachlichen Diskussion aus der Mode gekommen, seit und weil die präödipalen, strukturellen, frühen Störungen das Interesse und Augenmerk der Psychoanalytiker gewonnen und von dem ödipalen Konflikt als Hauptinteresse abgezogen haben. Er existiert fast nur noch als das Präödipal. Der große Mythenforscher Kurt Hübner hat ihm in seinem Werk „Die Wahrheit des Mythos“ ohnehin den Todesstoß versetzt. Er schreibt: „Selbst wenn man von den mannigfachen Varianten absieht, in denen dieser Stoff seit altersher aufgetreten ist, und sein Augenmerk auf das Drama des Sophokles richtet, so gibt es so gut wie nichts darin, was auf ein komplexiöses Verhalten des Ödipus im Sinne Freuds hinweisen könnte. Wie kann Ödipus das Verlangen nach der Tötung des Vaters befriedigt haben, wenn er, als er ihn umbrachte, gar nicht wußte, daß er sein Vater ist? Wie kann er das Verlangen nach dem Beischlaf mit der Mutter befriedigt haben, wenn er nicht wissen konnte, daß es seine Mutter ist ?“ <…> „Die Eheschließung mit der Mutter <ist> keineswegs die Folge einer Liebesbeziehung zu ihr <…>“. Sie erfolgt nämlich ausschließlich deswegen, weil Ödipus mit der Errettung der Stadt die Königswürde und damit das Beilager der Königin <…> erworben hat. Was aber die Worte der Jokaste betrifft: ‚Denn viele Menschen haben wohl in Träumen schon/ der Mutter beigelegen‘, so stützten sie sich auf einen den Griechen geläufigen Topos, wonach ein solcher Traum bisweilen den Tod, bisweilen auch Landeroberung bedeuten kann <…>. Die Deutung der Ödipus-Tragödie durch Freud und seine Anhänger ist also schlechthin willkürlich. <…> Gerade weil Ödipus gottesfürchtig die schrecklichen  Verbrechen vermeiden will, die ihm das Orakel voraus gesagt hat, wird er ungewollt zum Vollstrecker der Weissagung. <…> Seine Taten wirken wie die Pest, die eine ganze Stadt vergiftet. Schuld ist also hier ein Schicksal, das Götter und Orakel verhängt haben. <…> Zu einer solchen Auffassung von Schuld und Sühne gibt es keinen psychologischen Zugang im heutigen Sinne. Wir verlegen Schuld und Sühne in das ‚Innere‘ des Menschen. <…> So ist unsere Sicht eine der sophokleisch-griechischen geradezu entgegengesetzte. <…> Für Sophokles sind es die ‚objektiven‘ Ereignisse, die zählen, weil mythisches Ich und Welt, Subjekt und Objekt nicht voneinander streng getrennte Sphären darstellen, sondern eine unauflösbare Einheit darstellen. <…> Das, was wir ‚Ich‘ nennen, jenes Gegenstandsfeld der Psychologie, verschwindet mythisch in dieser Einheit.“ Soweit Hübner. Es ist eine schöne Zusammenfassung der Wahrheit des Mythos: die Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt und die Externalität der Motive in Gestalt des Ratschlusses von Göttern und Orakel. Hübner argumentiert aber Freud gegenüber mit den gedanklichen Mitteln des Logos, der eine andere Wahrheitsebene beschreibt als der Mythos, dessen Wahrheit er in seinem Buch gegen den Logos verteidigt, also das Narrativ gegen die logische Abstraktion. Hübner hat offensichtlich nicht Freuds Auseinandersetzung mit Hamlet gelesen. Freud schreibt: „Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dieselbe Stellung eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kindheitswünsche zeigt.“ Diese Gewissensskrupel seien nichts anderes als die Erscheinungsform des unbewussten Wissens, dass er „wörtlich verstanden selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder.“ Den Unterschied zwischen Ödipus und Hamlet beschreibt Freud so: „Im Ödipus wird die zugrundeliegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Leben gezogen und realisiert, im Hamlet bleibt er verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz <..> nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen.“ Für ihn zeigt sich an den beiden Stoffen die kulturelle Entwicklung. Er schreibt: „In der veränderten Handlung des nämlichen Stoffes offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinander liegenden Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben.“ Norbert Elias hat sich in seinem magnum opus „Über den Prozeß der Zivilisation“ dieser Gedanken als eines zentralen Topos bedient. Freud bemühte sich immer wieder und lebenslang um neue Definitionen und Formulierungen im Rahmen dualer Konflikte. Dabei handelt es sich, wie Laplanche und Pontalis betonen, um gegensätzliche innere Forderungen. Der ödipale Konflikt ist für Freud der Kernkomplex der Neurose. Schon bei Sophokles ist aber der Kern des Problems mehr als Vatermord und Inzest. König Ödipus sucht nach dem Schuldigen für die tödliche Pest. Er wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, muss eigene Schuld anerkennen und die Konsequenzen tragen. Insofern hat Freud recht. Die allgemeine Wahrheit ist, dass Menschen unbewusst Prozesse konstellieren, die konfliktreiches, oft destruktives Potenzial enthalten. Freud hat nie eine endgültige Formulierung entwickelt. In einem modernen, umfassenden Sinne hat Mertens folgende Definition gegeben: „Der Ödipus-Komplex umfasst <…> die Gesamtheit der kindlichen Liebes-, Hass- und Schuldgefühle gegenüber den Eltern.“ Es würde den Rahmen sprengen, wenn ich die Einzelheiten und Varianten diskutierte. Die m. E. beste moderne Auseinandersetzung darüber findet sich in dem ausgezeichneten Buch „Praxis der psychodynamischen Psychotherapie“ meiner ehemaligen Doktorandin und späteren Mitarbeiterin Annegret Boll-Klatt. Das Kapitel „Der ödipale Konflikt“ stammt von dem Ko-Autor Matthias Kohrs. Jedenfalls ist der ödipale Konflikt eine lebenslange Angelegenheit, und davon handeln die drei biographischen Vignetten im Folgenden. Allerdings liefert die psychoanalytische Abwehrlehre zum Thema Ödipus noch überraschende Erkenntnisse. In seiner Arbeit „Die Verleugnung der Realität“ setzt...

Warum muß man Ghibellino bekämpfen, wenn man ihn doch nicht widerlegen kann? (2012)

Im Jahr 2004 war ich eingeladen, bei den Lindauer Psychotherapiewochen einen Hauptvortrag zu halten. Es ging eine von zwei Wochen lang um das Herz, und die Veranstalterin, Verena Kast, hatte sich wohl erinnert, dass ich im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in Hamburg zwölf Jahre lang ein großes Projekt über die Problematik der Herzoperierten geleitet hatte. Sie gab mir als Thema auf: „Herzschmerz und Leidenschaft“. Nun war Herzschmerz damals nicht im Zentrum meiner Forschung gewesen und Leidenschaft kam dort gar nicht vor. Ich sagte mir, dieses Thema sei eigentlich ein literarisches, und dazu hatte ich ohnehin mehr Lust als zu meinen inzwischen schon länger zurückliegenden empirischen Forschungsthemen. Als Hauptredner hat man ja alle Freiheit. Man darf nur nicht das Publikum langweilen. Ich lieferte in Kürze den state of art ab und beschloß, Herzschmerz und Leidenschaft fände sich vor allem im Roman des 19. Jahrhunderts, und, quasi als Portal zu meinem selbstgewählten Rahmen, wollte ich mit Goethes Wahlverwandtschaften beginnen. Während meiner Recherchen stieß ich zufällig auf ein Buch mit dem Titel „Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe?“ Mein Interesse war sofort geweckt, und dafür hatte ich zwei Gründe: ich beschäftigte mich mit Goethes Roman, und ich hoffte, mein Interesse am Autor selbst wieder zu beleben. Das hatte ich nämlich schon als Jüngling verloren, weil ich ihn – als Person – nicht verstand. Ich hatte gelesen, dass er vor den Frauen immer davongelaufen sei, was meinem jugendlichen Selbstverständnis sehr zuwider war. Die Geschichte mit Frau v. Stein verstand ich auch nicht. Damals wußte ich nicht, dass niemand sie verstand und die ganze Fachwelt angesichts der Rätselhaftigkeit bedenklich das Haupt wiegte. Mir war vor allem schleierhaft, warum Josias v. Stein nicht Goethe zum Duell forderte, wenn seine Frau Goethes Geliebte war. Damit war er doch in dem 6000-Seelen-Städtchen Weimar blamiert. Ich hielt ihn also für einen Trottel. Anders als der Autor des Buches, den ich zunächst fälschlich für einen italienischen Germanisten hielt – er heißt Ettore Ghibellino und ist ein promovierter Staatsanwalt – zog ich mein Interesse von Goethe ab. *In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Ann Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A. J. Denkena Verlag, Weimar 2012, 1. Aufl., S. 25-52 Dieses Buch nun, damals in erster Auflage (2003), traf mich wie ein Donnerschlag: zum erstenmal glaubte ich, Goethe zu verstehen. Plötzlich war er kein Denkmal mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Für meinen Vortrag war das sehr stimulierend. Ich wurde auf Goethes Werke wieder neugierig, und ich stieß z. B. auf die „Novelle“ (Goethe 2000 b), die ich als Schüler gelesen und sterbenslangweilig gefunden hatte. Nun aber las ich sie unter dem Einfluß von Ghibellinos Hypothese, dass nämlich nicht Frau v. Stein, sondern die Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach die Geliebte Goethes gewesen sei (Ghibellino 2007), erneut und  entdeckte anscheinend als Erster den autobiographischen Bezug. Goethe erzählt folgende Geschichte: Herzog und Herzogin samt Gefolge reiten zur Jagd. Im Gehege eines Schaustellers bricht ein Brand aus, und ein ausbrechender Tiger bedroht die Herzogin. Ein junger Ritter erschießt den Tiger. Den Germanisten war nicht entgangen, dass zwischen der Herzogin und dem Ritter zarte Gefühle entstehen, mehr aber nicht. Warum nicht – dafür steht der Tiger als Sinnbild einer ausbrechenden gefährlichen Leidenschaft.  Ich hatte meine Entdeckung in einer kleinen Fußnote meines Vortrags in einem psychosomatischen Fachjournal veröffentlicht (Speidel 2005), und dort hatte es Ghibellino im Internet entdeckt. Er schrieb mir einen Brief und fragte, ob ich mich nicht an den Forschungen seiner Weimarer Arbeitsgruppe beteiligen wolle. Ich zögerte und antwortete ihm schließlich, ich sei ja kein Goetheforscher. Was ich mir zutrauen könne, sei, mich kritisch mit Kurt Eissler auseinander zu setzen. Er war schließlich ein psychoanalytischer Kollege von mir. Eissler, ein Wiener jüdischer Emigrant, der in New York gelebt hatte, veröffentlichte 1963 eine große psychoanalytische Studie über Goethes erste zehn Weimarer Jahre, die 1983 und 1985 in deutscher Übersetzung erschienen war. Ich hatte sie damals gekauft, aber nie gelesen, sondern sie dem Hamburger Herzchirurgen Rodewald, mit dem ich lange Jahre zusammen geforscht hatte, zu seiner Emeritierung geschenkt. Ich dachte, der habe nun im  Gegensatz zu mir Zeit für so etwas. Später, als ich mich doch wieder dafür interessierte, war das Werk vergriffen, aber wie der Zufall spielt: eine alte, befreundete Psychoanalytikerin hatte mir in ihrem Nachlaß zugestanden, mich in ihrer Bibliothek zu bedienen, und so kam ich wieder zu Eisslers 1800-seitigem opus magnum, rechtzeitig, um Ghibellino meine Mitarbeit anbieten zu können. Was für mich an Ghibellinos Buch so überzeugend ist, beschränkt sich nicht auf meine anfängliche Begeisterung, an dem rätselhaften Goethe soviel Menschliches und vor allem  Nachvollziehbares entdeckt zu haben. Vielmehr stehen bzw. standen dem Verständnis Goethes so viele Widersprüche und Rätsel entgegen, die von der Forschung nicht geklärt werden konnten. „Warum blieb Goethe 1775 in Weimar und wurde dort trotz erbitterter Widerstände mit nur 26 Jahren Minister? Warum heiratete er nicht, um statt dessen eine undefinierbare Liaison mit der verheirateten Frau v. Stein einzugehen?“ (Ghibellino 2007, S. 11), was noch niemand verstanden hatte bzw. schlüssig erklären konnte? Wie es der alte Merkvers sagt: Frau v. Stein went to bed at nine. If Goethe went too, nobody knew. “Warum brach er 1786 überstürzt nach Italien auf und wartete dann wochenlang in der Hafenstadt Venedig? Warum nahm Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien Christiane Vulpius zur Geliebten, obwohl er sie nicht als ebenbürtig behandelte? Und warum heiratete er sie dann fast zwei Jahrzehnte nicht,...

Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012)*

Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012)* In der reichhaltigen Lyrik der ersten zehn Weimarer Jahre Goethes gibt es eine Reihe von kleinen Gelegenheitsgedichten, die sich mit Frauen aus Goethes Umgebung beschäftigen, z. B. mit Gustgen, Fräulein v. Stein, Fräulein v. Waldner, Frau v. Werthern, Caroline Ilten, Herzogin Luise, Mamms. Schröter, Fräulein Nostitz, Fietgen, Fräulein Volgstedt, Malchen Hendrich, Fräulein Reinbaben, Anngen Müllern, Fräulein Göchhausen, Fräulein v. Oppel, Frau v. Witzleben, Gräfin Giannini, Frau v. Oertel, Frau v. Felgenbauer, Fräulein v. Wöllwarth, Frau v. Lichtenberg. Es sind poetische Persönlichkeitsskizzen, die mit wenigen Strichen prägnant charakterisieren, ehrerbietig wie bei Herzogin Luise, Auguste zu Stolberg und Frau v. Witzleben, liebevolle (Fietgen, Fräulein v. Oppel, Gustgen, Frau v. Felgenbauer, Frau v. Oertel), ironische (Fräulein Reinbaben, Frau v. Werthern, Frau v. Lichtenberg), auch leicht karikierende (Fräulein Nostitz), solche mit erotischem Beiklang (Mamms. Schröter, Anngen Müllern), pädagogische (Fräulein v. Stein), mahnend-tadelnde (Malchen Hendrich). Anna Amalia kommt hier namentlich wie in allen anderen Gedichten der zehn ersten Weimarer  Jahre nicht vor, dagegen Frau v. Stein mit folgenden Zeilen: Du machst die Alten jung die Jungen alt Die Kalten warm, die Warmen kalt Bist ernst im Scherz, der Ernst macht dich zu lachen, Dir gab auf´s menschliche Geschlecht Ein süßer Gott sein  längst bewährtes Recht Aus Weh ihr Wohl, aus Wohl ihr Weh zu machen. Was für eine Persönlichkeit wird uns hier geschildert? Goethe beschreibt sie als eine komplizierte, im Umgang schwierige, weil in ihren Reaktionen *In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A.J. Denkena Verlag, Weimar, 1. Aufl. 2012, S. 7-24 unvorhersehbare, unberechenbare Persönlichkeit voller Gefühlsambivalenz. Sie wird als emotional und wohl auch materiell Versorgende, aber Gefühl und Humor Mäßigende, gar Verhindernde beschrieben. Es ist vor allem eine Person, die Nähe und Leidenschaft nicht verträgt, und Goethe beantwortet diese Distanz mit ironischer Distanzierung: „Ein süßer Gott ….“ Es ist derselbe ironisch-distanzierte Ton, den Goethe, durchaus wohlwollend, in einem Brief an Carl Ludwig v. Knebel anschlägt: „Die Stein hält mich wie ein Korkwams über dem Wasser, daß ich mich auch mit Willen nicht ersäufen könnte“(8). Ähnlich distanziert gegenüber Goethe ist Charlotte v. Stein in ihren Briefen an Knebel, wenn sie wiederholt seine literarischen Produkte kritisiert. Es ist nicht der Ton zwischen Liebenden und nicht der hohe Ton der Liebesgedichte Goethes aus seinem ersten Weimarer Jahrzehnt. Karl Eibl, der Goethes Gedichte in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgegeben hat (1; 2), ahnt zwar etwas von der Rätselhaftigkeit der Beziehung zwischen Goethe und Charlotte v. Stein, wenn er schreibt: „Die ganze Tiefe der Beziehung zu Charlotte v. Stein konnten selbst die Freunde nur ahnen. In Goethes vielfältigen Bekenntnissen kommt sie nicht vor, und auch von Eckermann oder anderen Gesprächspartnern werden keine auf sie bezüglichen Äußerungen überliefert“ (1, S. 953). Weil er aber wie fast alle seiner Kollegen und fast alle an Goethe Interessierten an die Liebesbeziehung zwischen Goethe und Frau v. Stein glaubt(e), stellt er die Gedichte „Meine Göttin“, „Der Becher“, „Du machst die Alten jung, die Jungen alt“ und „Der vierte Teil meiner Schriften“ nebeneinander und kommentiert: „Die chronologische Anordnung der Gedichte mit ihrem Nebeneinander von gereimten Gelegenheitsscherzen, Augenblicksimpressionen und Versuchen, das Rätsel dieser Liebe poetisch zu ergründen, kann in ihrem Kunterbunt etwas von der Spannweite dieser Beziehung vermitteln“ (1, S. 957). Es ist ein Beispiel dafür, dass die Briefe Goethes an Charlotte v. Stein seit ihrer Veröffentlichung durch Adolf Schöll 1848-1851 nicht, wie allgemein angenommen, in einem Erkenntnissprung, sondern in einem Glauben, einer Ideologie mündete, die, wie wir es auch aus der Politik kennen, so festgefügt ist, wie Wissenschaft, wäre sie wirksam, gar nicht werden könnte. Vor der Veröffentlichung dieses Konvoluts war man weiter: Ettore Ghibellino zitiert Victor Hehn, der 1848 schrieb, Goethes Geliebte „gehört der höheren Region an, so viel ist gewiß.“ Hehn schrieb von „fürstliche[r] Geliebte[n]“, von „hohe[r] Geburt“, „Reichtum und persönliche[n] Eigenschaften der Schönheit und Lieblichkeit“ (3, S.132). Er wusste zwar nicht, wer Goethes Geliebte war, aber er las genau und war noch nicht von dem ideologischen Sog der Briefe geblendet. Wenn man bedenkt, dass die Auswahl der nach seinem Steckbrief in Frage kommenden Frauen in dem kleinen Land äußerst gering war, sozusagen n=1, so war ihm der nächste Schritt vielleicht nur verwehrt, weil die schiere Erwähnung Anna Amalias derzeit ein Sakrileg gewesen wäre. Schließlich war Marie Antoinette entehrt und Struensee gevierteilt (vgl. 3). Wenn wir im Jahr 2012 im Internet nach den Frauen um Goethe suchen, so sind sie alle säuberlich aufgezählt. Anna Amalia, mit der Goethe so viel öffentliches Leben teilte, kommt nicht vor. Das Sakrileg überdauert, und die große sowie die kleinen Weimarer Nachbargesellschaften samt Fremdenführern wachen darüber. Betrachten wir die Zitate aus den Knebel-Korrespondenzen und stellen sie neben das zitierte Ambivalenzgedicht, so bilden sie einen gemeinsamen Beziehungsstil ab, der durch eine gegenseitige kritische Distanz gekennzeichnet ist. Von hier aus gibt es keine emotionale Brücke zu den Liebesgedichten derselben Ära. Es gibt auch keine gedankliche Brücke, die es gestatten würde, sich die Empfängerin der zitierten Verse und der Liebesgedichte als ein und dieselbe Person vorzustellen. Eibl hat zwar von der „Spannbreite“ der in den Gedichten dieser Zeit vorkommenden Inhalte, Gestimmtheiten und Beziehungsformen gesprochen, aber er steht konzeptionell in den Fesseln einer Vorannahme, die ihn sogar zu einer Fehlleistung verleitete: er kennt keine Äußerung Goethes über Frau v. Stein, obwohl er selbst das zitierte Gedicht erwähnt. Es ist allerdings keines der Liebesgedichte, in denen alles vorkommt, was zur Liebe gehört....

Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur

Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur Hubert Speidel In: Brigitte Boothe (Hrsg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches 162-181. rüffer & rub Sachbuchverlag Zürich 2013   Einleitung Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand.   Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein.   Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen.   Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, formelle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung.   Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen. Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird.   Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung.   Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen.   Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft.   Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung.   Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen.   Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge. Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007).   Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi...