Warum muß man Ghibellino bekämpfen, wenn man ihn doch nicht widerlegen kann? (2012)

Im Jahr 2004 war ich eingeladen, bei den Lindauer Psychotherapiewochen einen Hauptvortrag zu halten. Es ging eine von zwei Wochen lang um das Herz, und die Veranstalterin, Verena Kast, hatte sich wohl erinnert, dass ich im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in Hamburg zwölf Jahre lang ein großes Projekt über die Problematik der Herzoperierten geleitet hatte. Sie gab mir als Thema auf: „Herzschmerz und Leidenschaft“. Nun war Herzschmerz damals nicht im Zentrum meiner Forschung gewesen und Leidenschaft kam dort gar nicht vor. Ich sagte mir, dieses Thema sei eigentlich ein literarisches, und dazu hatte ich ohnehin mehr Lust als zu meinen inzwischen schon länger zurückliegenden empirischen Forschungsthemen. Als Hauptredner hat man ja alle Freiheit. Man darf nur nicht das Publikum langweilen. Ich lieferte in Kürze den state of art ab und beschloß, Herzschmerz und Leidenschaft fände sich vor allem im Roman des 19. Jahrhunderts, und, quasi als Portal zu meinem selbstgewählten Rahmen, wollte ich mit Goethes Wahlverwandtschaften beginnen. Während meiner Recherchen stieß ich zufällig auf ein Buch mit dem Titel „Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe?“ Mein Interesse war sofort geweckt, und dafür hatte ich zwei Gründe: ich beschäftigte mich mit Goethes Roman, und ich hoffte, mein Interesse am Autor selbst wieder zu beleben. Das hatte ich nämlich schon als Jüngling verloren, weil ich ihn – als Person – nicht verstand. Ich hatte gelesen, dass er vor den Frauen immer davongelaufen sei, was meinem jugendlichen Selbstverständnis sehr zuwider war. Die Geschichte mit Frau v. Stein verstand ich auch nicht. Damals wußte ich nicht, dass niemand sie verstand und die ganze Fachwelt angesichts der Rätselhaftigkeit bedenklich das Haupt wiegte. Mir war vor allem schleierhaft, warum Josias v. Stein nicht Goethe zum Duell forderte, wenn seine Frau Goethes Geliebte war. Damit war er doch in dem 6000-Seelen-Städtchen Weimar blamiert. Ich hielt ihn also für einen Trottel. Anders als der Autor des Buches, den ich zunächst fälschlich für einen italienischen Germanisten hielt – er heißt Ettore Ghibellino und ist ein promovierter Staatsanwalt – zog ich mein Interesse von Goethe ab.

*In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Ann Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A. J. Denkena Verlag, Weimar 2012, 1. Aufl., S. 25-52

Dieses Buch nun, damals in erster Auflage (2003), traf mich wie ein Donnerschlag: zum erstenmal glaubte ich, Goethe zu verstehen. Plötzlich war er kein Denkmal mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Für meinen Vortrag war das sehr stimulierend. Ich wurde auf Goethes Werke wieder neugierig, und ich stieß z. B. auf die „Novelle“ (Goethe 2000 b), die ich als Schüler gelesen und sterbenslangweilig gefunden hatte. Nun aber las ich sie unter dem Einfluß von Ghibellinos Hypothese, dass nämlich nicht Frau v. Stein, sondern die Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach die Geliebte Goethes gewesen sei (Ghibellino 2007), erneut und  entdeckte anscheinend als Erster den autobiographischen Bezug. Goethe erzählt folgende Geschichte: Herzog und Herzogin samt Gefolge reiten zur Jagd. Im Gehege eines Schaustellers bricht ein Brand aus, und ein ausbrechender Tiger bedroht die Herzogin. Ein junger Ritter erschießt den Tiger. Den Germanisten war nicht entgangen, dass zwischen der Herzogin und dem Ritter zarte Gefühle entstehen, mehr aber nicht. Warum nicht – dafür steht der Tiger als Sinnbild einer ausbrechenden gefährlichen Leidenschaft.  Ich hatte meine Entdeckung in einer kleinen Fußnote meines Vortrags in einem psychosomatischen Fachjournal veröffentlicht (Speidel 2005), und dort hatte es Ghibellino im Internet entdeckt. Er schrieb mir einen Brief und fragte, ob ich mich nicht an den Forschungen seiner Weimarer Arbeitsgruppe beteiligen wolle. Ich zögerte und antwortete ihm schließlich, ich sei ja kein Goetheforscher. Was ich mir zutrauen könne, sei, mich kritisch mit Kurt Eissler auseinander zu setzen. Er war schließlich ein psychoanalytischer Kollege von mir. Eissler, ein Wiener jüdischer Emigrant, der in New York gelebt hatte, veröffentlichte 1963 eine große psychoanalytische Studie über Goethes erste zehn Weimarer Jahre, die 1983 und 1985 in deutscher Übersetzung erschienen war. Ich hatte sie damals gekauft, aber nie gelesen, sondern sie dem Hamburger Herzchirurgen Rodewald, mit dem ich lange Jahre zusammen geforscht hatte, zu seiner Emeritierung geschenkt. Ich dachte, der habe nun im  Gegensatz zu mir Zeit für so etwas. Später, als ich mich doch wieder dafür interessierte, war das Werk vergriffen, aber wie der Zufall spielt: eine alte, befreundete Psychoanalytikerin hatte mir in ihrem Nachlaß zugestanden, mich in ihrer Bibliothek zu bedienen, und so kam ich wieder zu Eisslers 1800-seitigem opus magnum, rechtzeitig, um Ghibellino meine Mitarbeit anbieten zu können.
Was für mich an Ghibellinos Buch so überzeugend ist, beschränkt sich nicht auf meine anfängliche Begeisterung, an dem rätselhaften Goethe soviel Menschliches und vor allem  Nachvollziehbares entdeckt zu haben. Vielmehr stehen bzw. standen dem Verständnis Goethes so viele Widersprüche und Rätsel entgegen, die von der Forschung nicht geklärt werden konnten. „Warum blieb Goethe 1775 in Weimar und wurde dort trotz erbitterter Widerstände mit nur 26 Jahren Minister? Warum heiratete er nicht, um statt dessen eine undefinierbare Liaison mit der verheirateten Frau v. Stein einzugehen?“ (Ghibellino 2007, S. 11), was noch niemand verstanden hatte bzw. schlüssig erklären konnte? Wie es der alte Merkvers sagt: Frau v. Stein went to bed at nine. If Goethe went too, nobody knew. “Warum brach er 1786 überstürzt nach Italien auf und wartete dann wochenlang in der Hafenstadt Venedig? Warum nahm Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien Christiane Vulpius zur Geliebten, obwohl er sie nicht als ebenbürtig behandelte? Und warum heiratete er sie dann fast zwei Jahrzehnte nicht, obwohl sein Sohn deswegen als Bastard aufwuchs? Warum kehrt in seinen Dichtungen das Thema einer verbotenen Liebe zu einer hochgestellten, unerreichbaren Frau immer wieder? Warum zeugt Goethes Liebeslyrik von tiefster Liebesempfindung für ‚eine Einzige’, obwohl er nur oberflächliche Beziehungen zu vielen Frauen gehabt haben soll“ (a.a.O. 2007, S. 11 f)?
Alles das war vor Ghibellino der Forschung nicht zugänglich. Selbst ein so kluger und kundiger Forscher wie Kurt Eissler scheiterte daran. Mit Ghibellinos Hypothese, Anna Amalia sei Goethes Geliebte, mehr noch: die große Liebe seines Lebens gewesen, lassen sich alle diese Rätsel schlüssig auflösen. Ghibellinos Auffassung hat die Merkmale einer guten Theorie: sie ist sparsam, und sie hält Widerlegungsversuchen stand.
Nun sollte man denken, daß die Fachwelt begeistert ist, solchermaßen Klarheit über Goethes Biographie zu erhalten, die er selbst nicht hergestellt hat. So lässt Goethe „Dichtung und Wahrheit“ mit den Entschluß, nach Weimar zu fahren, enden (Goethe 2000 e). Man erinnere sich an Mephistos Satz im Studierzimmer Fausts: „Das Beste was du wissen kannst, Darfst du den Buben doch nicht sagen“ (Goethe 2000 b). Sigmund Freud schrieb in seiner Rede zur Verleihung des Goethe-Preises 1930, die er krankheitshalber nicht halten konnte, sondern verlesen lassen musste: „… Im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht. Das rührt daher, dass Goethe nicht nur als Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller“ (Freud 1955). Goethe selbst sagt als alter Mann zu Kanzler v. Müller: „Die wahre Geschichte der ersten zehn Jahre meines weimarischen Lebens könnte ich nur im Gewande der Fabel oder eines Märchens darstellen; als wirkliche Tatsache würde die Welt es nimmermehr glauben. … Ich würde Vielen weh, vielleicht nur Wenigen wohl, mir selbst niemals Genüge thun. … Was ich geworden und geleistet, mag die Welt wissen; wie es im Einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes Geheimnis“ (Ghibellino 2007, S. 18). An Lavater schreibt er am 8. Oktober 1779: „Mein Gott, dem ich immer treu geblieben bin, hat mich reichlich gesegnet im Geheimen, denn mein Schicksal ist den Menschen ganz verborgen, sie können nichts davon sehen und hören“ (a.a.O. S. 31). Um Frau v. Stein kann es beim Verborgenen und Geheimen kaum gegangen sein, denn sowohl Goethe wie auch Frau v. Stein boten sich als Vertraute der Öffentlichkeit auffällig dar, obwohl sie doch verheiratet war. Eissler hat daraus hellsichtig geschlossen, dass mit dieser  Demonstration etwas anderes verborgen werden musste (Speidel 2008 a). Frau v. Stein jedenfalls zeigte in ihrem Haus alle die Zeugnisse ihrer Beziehung zu Goethe ihren Gästen und las ihnen Briefe vor, die Goethe ihr geschrieben hatte, und von denen Ghibellino vermutet, dass sie z. T. des Vorlesens wegen geschrieben wurden (Ghibellino 2007, S. 182). All dieses Unverstandene, Seltsame, Auffällige hätte also die interessierte Öffentlichkeit auf Ghibellinos Thesen neugierig machen sollen, wie es mir selbst ergangen war. Aber trotz der vielen Unklarheiten, für die Ghibellino Klärungen anbot, war dies nicht der Fall. Die typische, häufigste Reaktion war Ablehnung, und zwar ohne wissenschaftliche Argumente.  Für Germanisten erscheint das nicht verwunderlich: wer sein Forscherleben sozusagen mit Frau v. Stein zugebracht hatte, mag sich sein Goethebild nicht zerstören lassen, schon gar nicht von einem gelernten Juristen (Speidel 2008 b).
Ein prominentes Beispiel ist Dieter Borchmeyer, früher Lehrstuhlinhaber für Neuere Literatur in Heidelberg, jetzt Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Als Susanne Beyer und Urs Jenny im „Spiegel“ (Beyer u. Jenny 2008) klug, kundig und wohlwollend über Ghibellinos Buch geschrieben hatten, fragte das Konkurrenzblatt „Focus“ Dieter Borchmeyer nach seiner Meinung. Der verstieg sich zu dem Vorwurf, Ghibellino habe sich „bis an den Rand von Fälschungen“ bewegt (Schmitz 2008). Es war der einzige substanzielle Vorwurf, der jedoch ohne Bedeutung ist.  Worauf bezog er sich aber? Die Gräfin Görtz hatte ihrem Mann, Minister in Diensten Friedrichs II. von Preußen, einen französischen Brief geschickt und in Anspielung auf Charlotte v. Stein und Goethe von „le pauvre Stein“ geschrieben. Durch einen längst korrigierten Übersetzungsfehler war „la pauvre Stein“ gelesen worden. In der Sache nehmen sich beide Versionen nichts: ob man die öffentliche, von ihr selbst so auffällig propagierte Rolle Charlotte v. Steins als vorgebliche Geliebte Goethes oder die von Josias v. Stein als vermeintlichen gehörnten Ehemann liest. Aber soviel Gedanken machte sich Borchmeyer nicht; die ganze Richtung passte ihm nicht. Er nannte Ghibellino einen Tölpel. Kein einziges Argument, sondern Beschimpfung. Der Präsident hat sich also nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein Rüpel benommen. Skurril ist die Behauptung Borchmeyers, Ghibellinos Buch sei schwer lesbar (a.a.O. 2008). Es muß sich um einen neurotischen Widerstand gehandelt haben, denn Ghibellinos Buch ist flüssig, spannend und gut lesbar geschrieben. Es entbehrt nicht der Komik, denn inzwischen hat sich Borchmeyer ausführlich mit einem Lesefehler Thomas Manns beschäftigt. Der konnte nämlich Adornos Sütterlinschrift schlecht entziffern, als er für den „Doktor Faustus“ Adornos Interpretation von Beethovens op. 111 abschrieb und irrtümlich statt „Eigengewicht der Akkorde“ „Fugengewicht der Akkorde“ las. Es ist ein Unsinn anstelle einer trefflichen Bemerkung. Das aber fiel fast niemandem auf, weil der Gegenstand ja auch kompliziert ist.
Mit beeindruckender Rabulistik macht nun Borchmeyer aus dem Fehler etwas Richtiges, und es ist ihm auch gar nicht recht, dass dieser Fehler in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe ausgemerzt ist (Borchmeyer 2009). Aber was ist denn der Unterschied zwischen Thomas Manns und Ettore Ghibellinos Lesefehler, dass die Beurteilung durch Borchmeyer so unterschiedlich sein kann? Es ist einfach: Thomas Mann steht unerschütterlich auf dem Denkmalssockel, und vor allem erschüttert er Borchmeyers Goethebild nicht. Was dieser nicht kennt, wir aber durch Jochanan Trilse-Finkelstein, Redakteur und Schriftsteller, der im Weimar der DDR-Zeit tätig war, neuerdings erfahren haben, ist der Streit zwischen der damaligen Goethe-Gesellschaft und dem Schiller-Kränzchen, als erstere quasi die Borchmeyer-Partei und letztere die Ghibellino-Partei verkörperten (Trilse-Finkelstein 2008). Schon damals konnte man sich nicht auf Eindeutigkeiten stützen, sondern entweder an die Beziehung zwischen Charlotte v. Stein und Goethe glauben und sich auf die über 1600 Briefe Goethes an sie berufen oder Plausibilitäten abwägen (Speidel 2010).
Die Mehrzahl der Germanisten scheint Ghibellinos These abgelehnt zu haben, weniger grobschlächtig vielleicht als Borchmeyer, aber ohne überzeugende wissenschaftliche Argumente. Der verstorbene Bielefelder Goetheforscher Drews, der Marburger Literaturwissenschaftler Solms und die Leipziger Germanistin Nagelschmidt beispielsweise ließen sich indessen unvoreingenommen auf Ghibellinos Argumentation ein.
Bemerkenswert ist die Stellungnahme der Klassik Stiftung Weimar aus dem Jahr 2008 unter dem Titel „Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe?  Zum Versuch, eine neue Weimar-Legende zu begründen“.  Hier heißt es: „Ghibellinos Ansatz ist historisch so fragwürdig, das zugrundeliegende Kunst- und Literaturverständnis derart einseitig biographistisch, der Umgang mit den Quellen so unreflektiert, ja manipulativ, die Kenntnisnahme und Einbeziehung der aktuellen Forschungsliteratur so selektiv, dass sich eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung eigentlich verbietet.“  Die findet denn auch gar nicht statt, sondern – so darf man vermuten – die wortreiche Vernichtung eines Feindes, von dem zu befürchten war, dass er über Goethe besser Bescheid wüsste als die Klassik Stiftung. Die Autoren des anonymen Pamphlets hatten aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Stefan Weiß und Ettore Ghibellino wiesen nämlich in ihrer Erwiderung im Namen der Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar (2008) den Autoren der Klassik Stiftung eine Fülle von Irrtümern, mangelnde Kenntnisse und Naivität nach, die für die hochdotierte Klassik Stiftung beschämend sind. Ihre Arroganz ist jedenfalls nicht durch Kompetenz begründet. Sie fehlt offenbar vollständig im Hinblick auf die „stumme Sprache“ der künstlerischen Produkte. Es ist das traurige Resultat einer feindseligen Rivalität anstelle einer produktiven Kooperation.
Um die Sachverhalte rational zu beurteilen, könnten wir uns fragen,  was die Folgen gewesen wären, wenn Anna Amalia und Goethe tatsächlich ein Liebespaar gewesen sein sollten. Der in der Stellungnahme der Klassik Stiftung (2008) zitierte Joachim Berger bagatellisiert diese Problematik, als hätte er sich nicht mit dem 18. Jahrhundert vertraut gemacht. Eine Angehörige des Hochadels hätte keine Liebesbeziehung zu einem Bürgerlichen haben dürfen, und eine Ehe wäre undenkbar gewesen. Es wäre also ein Skandal gewesen, der nicht nur dem Ruf der Herzoginmutter, sondern auch ihrem Sohn, Herzog Carl August geschadet hätte. Der hatte zwar unzählige Frauenbeziehungen, auch uneheliche Kinder und eine Nebenehe, aber all das hatte nicht die rufschädigende Bedeutung, wie wenn die Herzoginmutter sich mit einem Bürgerlichen, den sie zum Minister machte, und der auf ihren Einfluß hin auch geadelt wurde, eingelassen hätte. Nicht zuletzt wäre Goethes Ruf als Günstling der Regentin und Herzoginmutter ruiniert gewesen. Zweierlei hätte unternommen werden müssen, um eine Entdeckung zu verhindern: die Beziehung musste strengster Geheimhaltung unterliegen, und es mussten zu deren Absicherung falsche Fährten gelegt werden. Als eine solche falsche Fährte kann die Art der Beziehung Goethes zu Frau v. Stein gelesen werden. Wenn wir bedenken, dass Frau v. Stein mit einem hochgestellten Weimarer Beamten, dem Oberstallmeister Josias v. Stein, mit dem Goethe übrigens eine freundschaftlich-nachbarschaftliche Beziehung unterhielt, verheiratet war, so hätte eine Liebesbeziehung Goethes zu dessen Frau streng geheim gehalten werden müssen, selbst wenn Josias v. Stein an seiner Frau gar nicht interessiert gewesen wäre. Er musste als Oberstallmeister seinen Ruf wahren. Da er dies aber nicht tat, muß es dafür triftige Gründe gegeben haben, ebenso dafür, dass die Vertrautheit von Goethe mit Charlotte v. Stein so öffentlich zur Schau gestellt wurde.
Wie nötig die Geheimhaltung war, zeigen die Skandale, die es in jener Zeit gegeben hat. Mitte der achtziger Jahre des Jahrhunderts, so lesen wir bei Ghibellino, verbreitete sich die Nachricht von der sog. Halsband-Affäre in Europa wie ein Lauffeuer. Eine Geliebte des bei Hofe in Ungnade gefallenen Kardinals de Rohan, die Gräfin de la Motte, spielte dabei eine Rolle. Sie erzählte ihm, er könne die Gunst der Königin Marie-Antoinette wiedergewinnen, wenn er ihr als Bürge beim Kauf eines ungeheuer kostbaren Halsbandes diente. Er fiel darauf herein, weil der Schwindel durch gefälschte Briefe glaubhaft gemacht wurde. In Wirklichkeit traf der Kardinal sich mit der Schauspielerin Nicole Leguay d´Oliva, die der Königin ähnlich sah. Er bestellte die Kostbarkeit und übergab sie dem angeblichen Kammerdiener der Königin. Als die Ratenzahlungen ausblieben, flog der Schwindel auf. Kardinal Rohan wurde in ein Kloster verbannt und musste den Schaden aus Kirchenvermögen abtragen. Der moralische Schaden war gewaltig (Ghibellino 2007, S. 32). Goethe schreibt über seine Reaktion auf diese Geschichte: „… Im Jahr 1785 hatte die Halsband-Geschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht loswerden konnte, wobei ich mich so seltsam benahm, dass Freunde … <mir> gestanden, dass ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen sei“ (a.a.O., S. 31). Am 15. Februar 1831 sagte Goethe zu Eckermann: “Das Faktum geht der Französischen Revolution unmittelbar voran und ist davon gewissermaßen das Fundament. Die Königin, der fatalen Halsband-Geschichte so nahe verflochten, verlor ihre Würde, ja ihre Achtung, und so hatte sie dann in der Meinung des Volkes den Standpunkt verloren, um unantastbar zu sein. Der Haß schadet niemand, aber die Verachtung ist es, was den Menschen stürzt“ (Bergemann 1981). Die extreme Reaktion Goethes lässt sich nicht auf die Folgen für das französische Königshaus ableiten, die damals noch gar nicht vorhersehbar waren. Plausibel erscheint dagegen, dass Goethe sich vor einer analogen Affäre in Weimar fürchtete, nämlich den Folgen der Entdeckung seiner Beziehung zu Anna Amalia (Ghibellino 2007, S. 31 f).
Ein anderer Aufsehen erregender Skandal der Zeit spielte sich in Kopenhagen ab. Der Altonaer Arzt Struensee wurde gevierteilt, weil er mit der dänischen Königin Caroline Mathilde, der Schwester der Schwägerin Anna Amalias, ein Kind gezeugt hatte. Er hatte den geisteskranken Ehemann der Königin behandelt und sich als Minister u. a. mit der Abschaffung der Folter und der Einführung der Pressefreiheit große Verdienste erworben (a.a.O., S. 33 f). In der Umgebung Anna Amalias gab es ebenfalls eine eindrückliche Warnung davor, gegen die gültigen Moralvorstellungen zu verstoßen. Anna Amalias jüngere Schwester Elisabeth Christiane Ulrike wurde deshalb verbannt (Ghibellino 2007, S. 75). Sie war die untreue Ehefrau des untreuen Thronfolgers Friedrichs II. von Preußen, Friedrich Wilhelm II. gewesen.
Es sind lediglich die spektakulärsten Fälle der Folgen einer Überschreitung der Standesschranken, wie sie von Anna Amalia und Goethe vermutlich begangen wurden. Geheimhaltung war also oberstes Gebot. Allerdings war sie an einem Hof in einer kleinen Stadt schwer aufrecht zu erhalten. Zeugen müssten sich vernehmlich gemacht haben.
So schreibt beispielsweise die Gräfin Görtz ihrem Mann, der von 1762 bis 1775 in Weimar Prinzenerzieher gewesen war, auch viel dafür tat, dass Christoph Martin Wieland nach Weimar kam und ab 1778 preußischer Diplomat war, am 12. Oktober 1782, dass „Frau v. Stein … nach wie vor die ihr zugewiesene Rolle so gut sie nur kann spielt, indem sie fast jeden Abend in ihrem Haus Kartoffeln mit Goethe und der Herzogin <Anna Amalia> isst. Der Ehemann Stein sieht über all dies gänzlich hinweg“ (a.a.O., S. 74). In diesen Briefen werden Goethe und Anna Amalia als heimliches Liebespaar bezeichnet und Frau v. Stein als Strohfrau. Daß die Briefe der Gräfin Görtz überhaupt erhalten sind, liegt daran, dass sie außerhalb der Reichweite des Hauses Sachsen-Weimar und Eisenach im Gräflich Rechbergschen Familienarchiv in Donzdorf bei Göppingen aufbewahrt wurden (a.a.O., S. 15). Daß nämlich die Beziehung zwischen Goethe und Anna Amalia nicht hätte erkannt werden können oder jedenfalls nicht bekannt wurde, liegt daran, dass sie wie ein Staatsgeheimnis behandelt wurde. Die Herzöge haben seit 1786 alle Mittel daran gesetzt, um einschlägige Dokumente zu unterdrücken. Sie konnten mit den Archiven nach Belieben verfahren. Unter den interessierten Forschern war bekannt, dass „das Weimarsche Archiv … mehr Siegel und Schlösser als irgendein anderes“ hatte, so Karl August Varnhagen von Ense in seinem Briefwechsel mit Heinrich Düntzer. Man wusste, dass sich vieles gar nicht in den Archiven, sondern in der großherzoglichen Privatbibliothek befand. Das Herzoghaus versuchte auch, die Veröffentlichung von Schriftwechseln zu verhindern, die sich nicht im Besitz des Großherzogs befanden. Als die Erbin von Carl Ludwig von Knebel, der unter anderem ein enger Freund Goethes war (sein „Urfreund“), 1864 Handschriften aus Knebels Nachlaß verkaufen wollte, mahnte sie den Agenten, die Unterlagen auf Äußerungen hin durchzusehen, welche die Familie von Sachsen-Weimar und Eisenach kompromittieren könnten, da „ihre ganze Existenz gefährdet <wäre>, wenn das Geringste davon in die Öffentlichkeit käme“ (a.a.O., S. 12 ff). Nach dem Ende der Monarchie hatten sich diese Motive verflüchtigt, aber deren – vermeintliche – „Wahrheit“ blieb so fest in den Köpfen der Forscher etabliert, dass sie nicht mehr in Frage gestellt wurden. Das trifft auch für die Klassik Stiftung Weimar zu. Anna Amalias Briefe an Goethe und an ihren Sohn Carl August gelten bis auf wenige als verloren. Kanzler v.Müller, dem Carl August 1828 die Briefschaften Anna Amalias zur Durchsicht und Katalogisierung anvertraute, berichtete nach deren Lektüre begeistert, dass diese „ein herrliches Licht … auf Goethes und der Herzogin Charakter“ würfen. Goethe, dem Kanzler v. Müller erste Ergebnisse seiner Arbeit vorlegte, schrieb diesem am 24.Juli 1828: „Es <ist> mir höchst erfreulich, dieses Geschäft in Ihren Händen zu wissen, das ebenso wohl mit Einsicht und Treue als mit Vorsicht und Geschmack zu behandeln ist. Auf diesem Wege werden sonderbare Documente gerettet: nicht in politischer, sondern in menschlicher Hinsicht unschätzbar, weil man sich nur aus diesen Papieren die damaligen Zustände wird vergegenwärtigen können.“ Von diesen mehreren tausend Briefen fehlt bis heute fast jede Spur. Als das, was davon übrig geblieben war, 1872 gesichtet wurde, behielt sich der regierende Großherzog ein zweifaches Korrektur- und Kontrollrecht im Falle einer Veröffentlichung vor, die aber nicht zustande kam. Anläßlich der Verkaufsverhandlungen über Goethes Nachlaß zwischen seinem Enkel Walther Wolfgang und dem Deutschen Reich 1884 beanspruchte der regierende Großherzog weitgehende Rechte an Goethes Nachlaß. Seine Bedingung für den Verkauf war, „dass nie etwas veröffentlicht werde aus demselben ohne mein ausdrückliches Wissen und Genehmigen. Würde man dies nicht beobachten würde ich alle mir zu Gebote stehenden Mittel gebrauchen – Kaiser und Kaiserin mit einbegriffen – um die Transaction mit dem Reich zu verhindern.“ Walther Wolfgang vermachte schließlich der regierenden Großherzogin das literarische und das Familienarchiv seines Großvaters. Dazu gehörten auch Zeichnungen von Anna Amalia und Goethe, die verschollen sind. Als er am 16. April 1885 starb, trug der Großherzog in sein  Tagebuch ein: „Ich befahl, alle wichtigen Räume zu versiegeln.“ Nun ließ die Fürstin Sophie die verstaubten Papiere ins Schloß schaffen und sichtete selbst das Material. Sie bereinigte wohl Goethes Nachlaß. 1998 tauchte eines der unterdrückten Dokumente auf, die ein anonymer Verkäufer dem Goethe-Nationalmuseum anbot, eine Zeichnung Goethes auf demselben Papier, auf dem er auch das Nausikaa-Manuskript 1787 in Sizilien anfertigte. Sie stellt eine Felsenformation dar, die zusammen mit dem Meereshorizont das Doppel-A bilden (a.a.O., S, 12 ff). Es existieren auch zwei Aquarelle Goethes aus dem Jahr 1806. Das eine zeigt eine Hügellandschaft mit See, vor der ein großes A steht, die andere einen Aquädukt, der auf den Buchstaben AMALIE ruht (a.a.O., S. 28 f). Das Herzoghaus muß in Goethes Nachlaß brisantes, kompromittierendes Material vermutet haben, sonst hätte es nicht zu solchen supprimatorischen Mitteln gegriffen. Im Falle des Knebelschen Nachlasses konnte man annehmen, dass es sich um Carl August handelte, denn Knebel hatte eine Frau geheiratet, die Weimarer Kammersängerin Luise Rudorf, die ein uneheliches Kind von Carl August hatte. In diesem Nachlaß fehlt das Tagebuch Knebels aus dem ereignisreichen Jahr 1798. Im Falle Goethes kann es sich nur um Anna Amalia handeln. Die Briefe Goethes an Frau v. Stein durften erscheinen. Hier glaubte man sicher zu sein, dass es sich um Frau v. Stein handelte, und die war nicht Mitglied des Herzoghauses, also für dessen Ruf kein Risiko. Allerdings wurden diese Briefe erst 1848 bis 1857 veröffentlicht, als niemand mehr lebte, der sie hätte kritisch beurteilen können (a.a.O., S. 14).
Trotz dieser traurigen Verluste ließen sich natürlich nicht alle Zeugnisse unterdrücken, z. B. wie berichtet, die Briefe der Gräfin Görtz an ihren Mann. Sie schreibt ihm am 11. Juni 1780: „Goethe drechselt ständig an der perfekten Liebe; und der arme Stein – viel dümmer als er es bisher gewesen ist – erträgt geduldig das Geschwätz der Öffentlichkeit und von Herrn Goethe sowie die Launen seiner Frau. Ihr seht, dass alles beim Alten geblieben ist.“ Die Gräfin Giannini, Oberhofmeisterin in Diensten von Herzogin Louise, schreibt am 12. August 1782 an die Gräfin Görtz u.a. über die Nachricht der Erhebung Goethes in den Adelsstand und fährt dann fort: „ Die Liebschaften von letzterem mit seiner alten Schindmähre sind immer noch ganz aktuell, die Macht die diese Clique über den Herzog und die Herzogin ausübt, ist größer denn je“ (a.a.O., S. 73). Die Gräfin Görtz schreibt an ihren Mann in einer Situation, in der sie fürchtet, man werde in Weimar ihm die Pension entziehen und seinem Ruf schaden: „Maman <Anna Amalia> ist mit dem  Genie par Excellence ein Herz und eine Seele und böse Zungen sprechen davon, dass, trotz seiner kühlen Haltung in der Öffentlichkeit, er fast jedem Abendessen fern bleibt“ (a.a.O., S. 70). Und am 24. Dezember 1780: “Frau v. Stein stellt sich mehr denn je mit ihrem Freund <Goethe> öffentlich zur Schau, letztlich ist das meiste so geblieben, wie wir es verlassen haben“ (a.a.O., S. 73).
Henriette von Egloffstein, die auf Betreiben von Frau v. Stein (!) mit Goethe verkuppelt werden sollte – sie war ein strahlend schönes junges Mädchen –, als Goethe aus Italien nach Weimar zurückkam, und die von ihrer standesbewussten Mutter deshalb vorsorglich außer Landes gebracht wurde (a.a.O., S. 98 f), schreibt in ihren Erinnerungen später: „Ich hielt es für unmöglich, daß der hochgefeierte Dichter sich keine jüngere und schönere Geliebte <als Frau v. Stein> ausgesucht haben sollte, doch schwand allmählich dieser Zweifel, als ich sie in ihrem Hause besuchte und dort mit lauter Andenken  des damals in Rom weilenden Freundes umgeben  sah. Sie führte mich zu seinem Bilde, las mir seine Verse vor und bemühte sich, meine Phantasie durch die Schilderung seiner Liebenswürdigkeit zu bestechen. … Indessen muß man die Geschicklichkeit bewundern, womit diese Frau ihr künstliches Spiel durchzuführen wußte, so daß sie noch in späterer Zeit für Goethes Geliebte galt“ (a.a.O., S. 165).  Wäre sie aber Goethes Geliebte gewesen, so hätte sie schwerlich Goethe dem jungen Mädchen derart ans Herz gelegt.
Eine der Inszenierungen  des „künstlichen Spiels“ fand am 6. August 1776 in Ilmenau statt. Ghibellino schreibt darüber: „Nach außen wird ihre Liebe (gemeint ist die zwischen Anna Amalia und Goethe) durch die Inszenierung von Frau v. Stein als platonische Geliebte Goethes geschützt. Um diese sonderbare Verbindung glaubhaft zu machen, wurde ein Treffen in Ilmenau arrangiert. Frau v. Stein befindet sich Anfang August 1776 auf der Rückreise von einem Badeaufenthalt in Pyrmont und macht einen Umweg über Ilmenau, um Goethe zu sehen. Dieser ist dort amtlich unterwegs.  Auch der Herzog weilt mit seinem Hofstaat in Ilmenau, also mit zumindest einem Teil seiner knapp 40 persönlichen Diener, einschließlich zweier Mohren, mit seinen Mitarbeitern und sonstigen Begleitern wie etwa dem Maler Kraus. Frau v. Stein trifft am Abend des 5. August 1776 in Ilmenau ein. Goethe verbringt einen Teil des 6. August mit seiner „Geliebten“ und besucht mit ihr die in der Nähe gelegenen Hermannsteiner Höhlen. Wer es noch nicht mitbekommen hatte, wusste nun, daß zwischen Goethe und Frau v. Stein sich irgendetwas abspielte (a.a.O., S. 35).
Den größten Einfluß auf die öffentliche Meinung über die Art der Beziehung zwischen Goethe und Charlotte v. Stein haben die mehr als 1600 Briefe Goethes an Frau v. Stein (Fränkel 1960). Es ist eine Sammlung von Liebesbriefen, ein Drittel undatiert, viele ohne Anrede. Wo diese vorhanden ist, wird die Empfängerin Lotte, aber auch mit anderen Namen, z. B. Lida, angesprochen. Es gab noch mehr Briefe, die aber aussortiert worden sind (Ghibellino 2007, S. 167). Wenn man glaubt, dass mit der Anrede tatsächlich Frau v. Stein gemeint ist und nicht mit der Möglichkeit gerechnet wird, daß zur Vermeidung einer Katastrophe eine falsche Spur gelegt wurde, musste man keinen Argwohn hegen. Der hätte allerdings durchaus Nahrung finden können. Wenn Goethe an „Frau v. Stein“ schreibt, sie müssten noch die griechischen Fabeln lesen (Speidel 2010) oder wenn er sie bittet, die italienische Übersetzung des „Werther“ zu beurteilen, dann wäre zu bedenken gewesen, dass Frau v. Stein zwar französisch sprach, aber nicht italienisch, und daß ihr auch das Altgriechische nicht vertraut war; so hätten Zweifel an der Adressatin kommen können. Das gilt auch für lateinische Texte, die Goethe „Frau v. Stein“ schickte. Anna Amalia beherrschte die italienische Sprache, sie konnte in beiden Richtungen übersetzen. Sie lernte auch Altgriechisch bei dem Franzosen Anse de Villoison (Ghibellino, S. 165 ff, Speidel 2010). Wenn Goethe am 1. Januar 1780 aus Darmstadt an „Charlotte v. Stein“ schreibt: „Hier gefällt mir die Pr <incess> Charlotte, der verwünschte Name verfolgt mich überall …“, so kann er diesen Satz unmöglich an die wirkliche Charlotte v. Stein gerichtet haben (Ghibellino 2007, S. 39).
Am 10. Mai 1786 schreibt Frau v. Stein an den ehemaligen Prinzenerzieher v. Knebel: „Goethe lebt in seinen Betrachtungen, aber er teilt sie nicht mit. Dies <mitteilen> ist eine Tugend, die Sie nur besitzen! Aber ich bedauere den armen Goethe: wem wohl ist, Der spricht! Mir versagt manchmal die Sprache aus doppelten Ursachen, weil ich nichts weiß und weil ich leide.“ Um dieselbe Zeit (8. April bis 5. Mai 1786) gibt es aber 15 Billette an „Frau v. Stein“, die eine andere Sprache sprechen und große Mitteilsamkeit signalisieren: „Liebe mich. Ich hoffte gestern fast dich noch zu sehen“ (8.April). „Ich bin immer im stillen bey dir und habe nie sehnlicher gewünscht mit dir unter einem Dache zu seyn“ (10.April). „Gestern freute mich deine Gegenwart recht herzlich“ (13.April). „Ich habe grosses Verlangen mit meiner Geliebten zu essen“ (undatiert). „Du bist mir herzlich lieb, und ich habe dir recht schöne neue Sachen zu erzählen“ (24.April). „Wie oft habe ich heute gewünscht diesen Tag mit dir hier zuzubringen, er war ganz köstlich“ (25.April). „Ich hatte gestern Abend das größte Verlangen dich zu sehen, zumal da ich dir köstlichste Geschöpfe zu zeigen hatte“ (undatiert). „Liebe mich und lebe wohl. Ich habe dich herzlich lieb du einziges Wesen dessen Zärtlichkeit kein quiproquo zulässt“ (2.Mai). „Wie sehr habe ich mich beym Erwachen gefreut dass die Sonne hell schien und dass du das himmlische Schauspiel recht schön wirst gesehen haben“ (4.Mai). „Von meiner Lieben habe ich gar nichts gehört … Laß mich deine Liebe immer gleich finden…“ (5.Mai).
Am 26. Dezember berichtet Charlotte v. Stein Knebel von ihrem Kopfschmerz und spricht davon, dass ihr Herz „so entsetzlich eng“ sei. Vier Tage vor diesem Brief schreibt Goethe an „Frau v. Stein“ aber ein wahrhaft herzerwärmendes Billett ohne Anrede: „Ebenso wollte ich dir noch Glück auf den Weg wünschen und dich um ein Abschieds Wort bitten. Lebe wohl du Liebste und behalte mich im Herzen. Du bist mir unentbehrlich und iede leichte Wolke macht schon Finsterniß auf meinem Erdbogen“ (Fränkel 1960; Speidel 2010). Hier passen Sender und Empfängerin so wenig zusammen, dass man nicht glauben kann, diese Briefe seien wirklich an Frau v. Stein gerichtet gewesen. Man muß es auch nicht glauben, wenn man weiß, wie die Sammlung zustande gekommen ist. Fritz von Stein, der von seinem 12. bis 14. Lebensjahr in Goethes Haus gelebt hatte, und der wahrscheinlich durch seinen Verrat der Liebesbeziehung Goethes mit Anna Amalia Goethe zur Flucht nach Italien genötigt hatte, erbte u. a. das Konvolut von Briefen, das dann später als „Briefe Goethes an Frau v. Stein“ publiziert wurde. Anna Amalias bzw. Frau v. Steins Briefe sind bezeichnenderweise nicht erhalten.
Warum Frau v. Stein überhaupt so viele Briefe von Goethe erhalten haben sollte, ist nicht verständlich. Ihre Wohnungen waren benachbart, ab 1781 grenzten ihre Gärten aneinander, und der Umgang miteinander war eben gar nicht geheim (Ghibellino 2007, S. 168).
Anna Amalia und Goethes Mutter hatten eine sehr freundschaftliche Beziehung, und Anna Amalia besuchte sie auch mehrmals. In Briefen redete sie die Räthin mit „Liebe Mutter“ und „Liebe, beste Mutter“ an (a.a.O., S. 170; Speidel 2010). Goethes Mutter schrieb an Anna Amalia 49 Briefe, an Charlotte v. Stein nur zwei. Wenn Goethe am 26. August 1781 an „Frau v. Stein“ schreibt: „Mit einem guten Morgen schick ich meiner Besten einen Brief von meiner Mutter, um sich an dem Leben drinne zu ergötzen“ (Fränkel 1960, Bd. 1, S. 319), so kann dieser Brief nur an Anna Amalia gerichtet gewesen sein, denn  Frau v. Stein kannte Goethes Mutter zu diesem Zeitpunkt gar nicht (Ghibellino 2007, S. 171).
Am 4. Juli 1779 schreibt Goethe von dem „ominösen“ Namenstag. Es ist aber Charlottes Namenstag. Ihr wird er kaum so despektierlich geschrieben haben (a.a.O., S. 173). Im September 1780 ist Goethe rasend eifersüchtig. Frau v. Stein ist auf ihrem Gut in Kochberg, aber Anna Amalia reist für einen Monat mit dem Maler, Bildhauer und Kunsttheoretiker Adam Friedrich Oeser nach Mannheim, um den dortigen berühmten Antikensaal zu besichtigen (a.a.O., S. 174).
An Anna Amalias Geburtstag, dem 24. Oktober 1784 schreibt Goethe: „Es wird nur auf meine Lotte ankommen, wie und wo ich meinen heutigen Tag zubringen soll. Bleibt sie zu Hause so komme ich zu ihr und bringe meine Arbeit mit und auch Nahrung für Mittag und Abend. Will sie sich der Welt widmen, so bleibe ich zu hause, bin fleißig und geniese des Glücks ihrer Nähe erst wenn der Hof sie entläßt. Adieu geliebteste, d. 24. Oktober 1784.“ An diesem Tag war Frau v. Stein auf ihrem 35 km südlich von Weimar gelegenen Landgut Kochberg und konnte keine Veranstaltung am Hof wahrnehmen (Ghibellino 2007, S. 189). Die Redaktion der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken, die von Frau v. Steins Liebesbeziehung zu Goethe überzeugt war, datierte den Brief in der Annahme eines Schreibfehlers auf das Jahr 1785 (a.a.O., S. 189).
Vorläufig muß offen bleiben, wie viele der über 1600 Briefe an „Frau v. Stein“, viele ohne Anrede, viele aber auch mit dem offenkundigen Anschein, an Frau v. Stein adressiert zu sein, wirklich an Frau v. Stein gerichtet sind. Von vier Briefen aus dem Jahr 1789, die letzten beiden vom 1. und 8. Juni (Fränkel 1960, S. 383ff) kann dies als sicher gelten. In Ghibellinos Interpretation (Ghibellino 2007, S. 197f) handelt es sich um eine für die Öffentlichkeit bestimmte Darstellung des “Bruchs” seines “Verhältnisses” mit Charlotte v. Stein, die von ihr in ihrem Bekanntenkreis herumgezeigt werden konnte. Für diese Deutung spricht u.a. eine Auseinandersetzung Goethes mit Charlotte v. Steins Kaffeegenuß, denn sie erscheint im Kontext absurd und Goethes unangemessen., es sei denn, man versteht diese Kaffee-Geschichte mit Ghibellino als “komische Inszenierung einer Trennung für die Öffentlichkeit“ (a.a.O., S. 198). Allerdings enthalten diese Briefe auch ernsthaftere Widerspiegelungen problematischer Eigenschaften der Charlotte v. Stein, ihre Launenhaftigkeit, ihre Empfindlichkeit (Fränkel 1960, 2. Bd., S. 383 ff), und Goethe mußte seine Christiane gewiß gegen die Gehässigkeit Charlotte v. Steins, für die wir etliche Zeugnisse haben, in Schutz nehmen. So schreibt er in diesem Zusammenhang an Frau v. Stein: „Und das alles eh von einem Verhältniß seyn konnte das dich so sehr zu kräncken scheint. Und welch ein Verhältniß ist es? wer wird dadurch verkürzt? wer macht Ansprüche an die Empfindungen die ich dem armen Geschöpf gönne? Wer an die Stunden die ich mit ihr zubringe?“ (Fränkel 1960, S. 383 f, Brief vom 1. Juni 1789). Im Klartext sagt Goethe hier doch: mit Christiane schlafe ich, aber damit nehme ich Dir nichts weg, denn mit Dir hatte ich keine sexuelle Beziehung (Speidel 2010).
Goethe und der Weimarer Hof waren an der Geheimhaltung der Beziehung zwischen ihm und Anna Amalia gleichermaßen interessiert und waren bzw. sind in ihren Maßnahmen bis heute wirksam. So hat man die Stelle in Eckermanns Gesprächen mit Goethe übersehen, wo Goethe nahezu unverblümt über eine nächtliche Szene mit Anna Amalia erzählt (Ghibellino 2007, S. 57). Am 7. Oktober 1827 berichtet er: „So erinnere ich mich eines Falles aus den ersten Jahren meines Hierseins, wo ich sehr bald wieder in leidenschaftliche Zustände geraten war. Ich hatte eine größere Reise gemacht und war schon einige Tage zurückgekehrt, aber durch Hofverhältnisse, die mich spät bis in die Nacht hielten, immer behindert gewesen, die Geliebte zu besuchen. Auch hatte unsere Neigung bereits die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen, und ich trug daher Scheu, am offenen Tag hinzugehen, um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder fünften Abend aber“ ging Goethe zu ihrem Haus, merkte jedoch, dass sie Besuch von Damen hatte. Später ist alles verdunkelt, trotzdem streift Goethe durch die Stadt und hofft, dass aufgrund seines starken Sehnens nach ihr sie auch herauskäme und ihn treffen würde. An diesem Punkt der Erzählung taucht auf einmal Anna Amalias Wittumspalais auf: „Indessen war ich an der Esplanade hinunter gegangen und bis an das kleine Haus gekommen, das in späteren Jahren Schiller bewohnte, als es mich anwandelte, umzukehren und zurück nach dem <Wittums> Palais und von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte kaum 100 Schritte in dieser Richtung getan, als ich eine weibliche Gestalt mir entgegenkommen sah, die der Ersehnten  vollkommen gleich war. Wir gingen dicht an einander vorbei, so dass unsere Arme sich berührten; ich stand still und blickte mich um, sie auch. ‚Sind Sie es?’ sagte sie, und ich erkannte ihre liebe Stimme. ‚Endlich!’ sagte ich und war beglückt bis zu Tränen. … Ich begleitete sie bis vor die Tür, bis in ihr Haus. Sie ging auf der finsteren Treppe mir voran, wobei sie meine Hand hielt und mich gewissermaßen nachzog. Mein Glück war unbeschreiblich“ (Bergemann 1981, Ghibellino 2007, S. 57). Die Lokalität ist also das Wittumspalais und nicht Frau v. Steins Haus. Die hätte, sexualfeindlich wie sie war, Goethe nicht nächtens in ihr Haus gezogen. Hätte sie es entgegen ihrer Natur aber doch getan, hätte Goethen dortselbst der Hausherr erwartet. Und dann?
Eine der wichtigsten autobiographischen Mitteilungen ist der Torquato Tasso (Goethe 2000 d). Goethe hat das Schauspiel um 1780 begonnen, das Projekt 1781 wieder fallengelassen und nach der italienischen Reise abgeschlossen. 1790 ist das Stück erschienen (Jörgensen et al. 1990, S. 502). Es hat fünf Personen: Alfons der Zweite, Herzog von Ferrara, zwei Leonoren: Leonore von Este, Prinzessin, Schwester des Herzogs, Leonore Sanvitale, Gräfin von Scandiano, Hofdame der Prinzessin, Torquato Tasso, Dichter am Hofe von Ferrara und Antonio Montecatino, Staatssekretär. Zwei der drei Männer, Tasso und Antonio, werden auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge vorgestellt: Tasso, der soeben sein großes Werk „Gerusalemme Liberata“ abgeschlossen hat und von den Damen des Hofes bewundernd und spielerisch mit dem Lorbeer bekränzt wird, und Antonio, der gerade von einer erfolgreichen Mission am päpstlichen Hof zurückkehrt. In diesen beiden Männern prallen zwei Welten in gegenseitigem Unverständnis aufeinander, die politische und die poetische. Antonio erkennt zwar Tassos Überlegenheit als Poet an, aber dessen Welt ist die des Narren (a.a.O., S. 209) und nur in den Grenzen dieser poetischen Welt respektiert. Antonios Welt ist die reale des Politischen, und er lässt es Tasso spüren. Tasso will diese Begrenzung nicht gelten lassen, und es kommt zu zwei katastrophalen Grenzüberschreitungen, die zum Stubenarrest von Tasso führen, mit dem Tasso seine Grenzen schmerzhaft und demütigend vor Augen geführt werden: er fordert Antonio zum Duell, und er scheitert auch an der Verwirklichung der gegenseitigen Liebe zwischen ihm und der Prinzessin, zunächst konzeptionell, mit dem berühmten Dialog im ersten Auftritt des 2. Aufzugs, in welchem die Prinzessin dem „erlaubt ist was gefällt“ Tassos ihr „erlaubt ist was sich ziemt“ entgegenhält (Goethe 2000 c, S. 100), dann im Scheitern an der Realität, als Tasso die Prinzessin umarmt und damit seine Ausstoßung herbeiführt. Tassos Unwilligkeit und Unfähigkeit, die höfische Realität anzuerkennen, führt ihn in die Paranoia, aus der ihn ausgerechnet der Realpolitiker Antonio zurückholt. Tassos das Drama beendende Worte sind:

„Zerbrochen ist das Steuer und es kracht
Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt
Der Boden unter meinen Füßen auf!
Ich fasse dich mit beyden Armen an!
So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte“
(a.a.O.,  S. 167).

Torquato Tasso ist ein Kammerspiel, dessen psychologische Stringenz unvergleichlich ist. Man kann es als historisches Drama lesen, denn die Figuren sind bis auf die freie Interpretation der Leonore Sanvitale historisch, aber es ist auch autobiographisch determiniert, was die meisten Interpreten wohl gewürdigt haben. Hier jedenfalls geht es um die Frage der biographischen Zusammenhänge und um die Geheimnisse Goethes, die er deutlich, aber nur für den Wissenden erkennbar veröffentlicht.
Bei Eissler wird Tasso zuerst im Zusammenhang eines verbotenen gefährlichen Verhältnisses erwähnt, aber nicht in Bezug auf Frau v. Stein resp. Anna Amalia, sondern im Hinblick auf Goethes erotische Verstrickung – so Eissler (1984-1985, S. 527) – mit Herzogin Louise, der Frau Herzog Carl Augusts. Eissler scheint diese Gefahr sehr ernst genommen zu haben. Er schreibt an anderer Stelle: „Der Leser mag sich daran erinnern, dass Goethe in seiner Beziehung zur Herzogin wahrscheinlich einer noch größeren Katastrophe nahe gewesen war, und dass Charlotte v. Stein wohl schon von Anfang an die Funktion hatte, ihn vor den verheerenden Folgen einer Katastrophe zu bewahren.“ Eissler relativiert hier entgegen seinen sonstigen Auslassungen die Bedeutung Charlotte v. Steins für Goethe auffallend. Er ist hier der Wahrheit sehr nahe gekommen, verwechselt aber vermutlich die Personen, welche Versuchung und Gefahr in eins waren. Selbst wenn Louise das Objekt seines Begehrens gewesen wäre: er war viel zu klug, um mit einer Affäre mit der Frau seines Herzogs seine Existenz zu ruinieren (Speidel 2008 a). Goethe nannte sie zwar gelegentlich einen Engel, aber er war eher besorgt um sie: „ Die arme Herzogin dauert mich von Grund aus.“ Er anerkennt ihre Liebenswürdigkeit, bemerkt aber in einem Brief an „Frau v. Stein“, „… daß es bey ihr wenn ich so sagen darf immer in der Knospe bleibt“ (Brief vom 12. April 1782, Ghibellino 2007, S. 48). Goethe sah sich auch in der Rolle eines Eheberaters (a.a.O., S. 169). Sie war für ihn auch deshalb keine Gefahr, weil sie zu gestört und zu adelsstolz war. So bedauerte sie auch, dass Charlotte von Lengefeld den bürgerlichen Schiller heiratete (a.a.O., S. 58).
Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass Goethe den beiden Protagonistinnen denselben Vornamen gab. Das geschah natürlich nicht aus Versehen, sondern war vermutlich ein Hinweis Goethes darauf, dass man bei ungenauem Blick zwei Personen verwechseln könnte. Tasso aber liebt die Prinzessin, nicht die Hofdame. Mit der öffentlichen Umarmung der Prinzessin zeigt Goethe, was er seinerseits zu vermeiden hatte. Tasso und Antonio sind die beiden Verkörperungen Goethes: der liebende Dichter und der Minister. Leonore Sanvitale drückt das so aus:
„Zwey Männer sind´s, ich hab es lang gefühlt,
Die  darum Feinde sind, weil die Natur
Nicht einen Mann aus ihnen formte“ (Goethe 2000 d, Ghibellino 2007, S. 129).
Die Liebe Tassos zu der Prinzessin scheint historisch nicht haltbar zu sein, aber genau das brauchte Goethe, wie auch die Namensgleichheit, denn wenn Tasso Leonore besingt, bleibt offen, wen er meint. Goethe veranschaulicht so die Rolle der Frau v. Stein, ohne das Staatsgeheimnis zu brechen.
Er hatte am 23. Juni 1784 „Frau v. Stein“ einen Vierzeiler geschickt, für den er einen Felsen sucht, in den er ihn einhauen könnte:
„Was ich leugnend gestehe und offenbarend verberge,
Ist mir das einzige Wohl, bleibt ein reichlicher Schatz
Ich vertrau es dem Felsen damit der Einsame rathe
Was in der Einsamkeit noch was in der Welt mich beglückt“ (Fränkel 1960, 2. Bd., S. 389).
Im West-östlichen Divan wird er den Sänger in dem Gedicht „Geheimstes“ singen lassen:

„Wir sind emsig, nachzuspüren,
Wir, die Anekdotenjäger,
Wer dein Liebchen sei und ob du
Nicht auch habest viele Schwäger.

Denn dass du verliebt bist sehen wir
Mögen wir es gerne gönnen,
Doch dass dein Liebchen so dich liebe,
Werden wir nicht glauben können.

Ungehindert, liebe Herren,
Sucht sie auf! Nur hört das Eine:
Ihr erschrecket wenn sie dasteht!
Ist sie fort, ihr kost dem Scheine“

(Goethe 2000 a, S. 33).

Goethe hat im Tasso wie an vielen anderen Stellen als Dichter etwas offenbart, was er in der Realität verbarg und unkenntlich machte. Herzog Carl August hatte übrigens Bedenken gegen die Aufführung des Stücks, das Goethe selbst als gefährliche Unternehmung bezeichnet hatte (a.a.O., S. 116). Er wird gewusst haben warum. Die künstlerische Qualität kann es nicht gewesen sein, aber als Tasso dann aufgeführt wurde, war er begeistert. Er nannte es nicht ein Kunstwerk, sondern „ein großes Kunststück“ (a.a.O., S. 116). Er wusste, warum.
Das Bild von Goethe ist in der literarischen Öffentlichkeit vor allem von Wilhelm Bode, dem führenden Goethe-Forscher um die vorletzte Jahrhundertwende und von Kurt Eissler geprägt worden. Zwar gab es auch Meinungen, die ihn seinem Schützling und Freund Carl August und dessen promiskuivem Treiben anverwandelten, aber die zehnjährige Freundschaft mit Charlotte v. Stein, die der Sexualität so ablehnend gegenüberstand, nötigte dazu, Goethes Sexualität sich diesem Umstand angepasst vorzustellen (Bode 1910). Bode machte Goethe zu einem blutleeren Nazarener, der mit Charlotte v. Stein vereint sublimierend nach Höherem strebte (Speidel 2008a). Der Psychoanalytiker Kurt Eissler konnte es sich nicht so leicht machen (Eissler 1984-1985). Daß ein so vitaler Mann wie Goethe, Liebling der Frauen, der in den besten Mannesjahren zehn Jahre lang ohne Sexualität eine der Sexualität abholde Frau anbetete (vgl. Koopmann 2006), nötigte zu besonderen, fachgerechten Deutungsanstrengungen. Er erfand eine schwere Sexualpathologie, die Goethe verhinderte, den Sexualakt auszuführen. Er hat sozusagen der Sicherheit halber Goethes Sexualität erschossen und erschlagen. Frau v. Stein ließ ihn nicht, und er konnte nicht. Doch oh Wunder: in seinem 39. Lebensjahr hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Sexualverkehr, mit einer verwitweten Kellnerin namens Faustina – ein signifikanter Name – in Trastevere, die nach Meinung einiger zu der Zeit schon tot war (a.a.O., S. 224), und mit Christiane funktionierte es auch bestens. Daß ein so kluger Mann wie Eissler einen derartigen Unfug erfindet, für den es keinen Beleg gibt, und der klinisch so unwahrscheinlich ist, zeigt, in welcher Erklärungsnot man ist, wenn man an die leidenschaftliche, asexuelle Liebe Goethes zu Frau v. Stein glaubt. Aber weil er ein so berühmter Fachmann war, musste man ihm glauben, obwohl wir sicher sein können, dass er Gleichartiges in seiner langjährigen Praxis gewiß nie erlebt hat. Er hätte es einfacher haben können.
Ein anderes Rätsel ist Goethes Flucht aus Karlsbad nach Italien. Zwar konnte man davon ausgehen, dass er das Land, das ihm schon durch seinen Vater als Sehnsuchtsort vorschwebte, besuchen wollte, und Frau Aja (ein Spitzname, den die Brüder Stolberg Goethes Mutter gaben) hat das, um die Daheimgebliebenen und Enttäuschten zu beschwichtigen, auch so erzählt (Geiger o.J., Speidel 2010). Aber für eine überfällige Bildungsreise verlässt man nicht unangekündigt einen Badeort, ohne sich noch einmal zuhause vorbereitet und die Vertrauten informiert zu haben. Aus Italien schrieb er Carl August, die Augen von Fritz von Stein, seinem ehemaligen Pflegesohn, machten ihm „Sorge“ (Ghibellino 2007, S. 82). Nun hatte Fritz gar keine Augenkrankheit. Es war also eine spionagekompatible Verschlüsselung. Fritz hatte, wie Goethe in seinem Brief vom 6. Juli 1786 an „Frau v. Stein“ bemerkte, einen versiegelten Brief an sie aufgebrochen; er spionierte also Goethe nach (a.a.O. S. 82).  Als Goethe am 28. Juni 1788 um 23 Uhr in Weimar ankommt, zitiert er Fritz für den nächsten Morgen um 6 Uhr zu sich (a.a.O., S. 82). Das Gespräch muß unerfreulich gewesen sein und beendete die Beziehung für lange. Goethe hat ihm später nicht zur Verlobung, nicht zur Hochzeit und nicht zur Geburt seines Kindes gratuliert. Es war die Höchststrafe für einen Verräter. Immerhin sorgte er dafür, dass sein Vertrauter, Seidel, sich seiner annahm (a.a.O., S. 83).
Wenden wir uns zum Schluß den Persönlichkeiten der beiden Frauen zu. Anna Amalia war eine erfolgreiche Regentin gewesen (Haller-Nevermann 2005). Als ihr Sohn Carl August 17 Jahre alt war, wollte sein früherer Erzieher, der Graf Görtz, daß er vorzeitig mündiggesprochen würde. Anna Amalia wehrte sich dagegen, wohl nicht, weil sie die Macht nicht abgeben wollte, sondern weil sie mit guten Gründen Carl August für unreif hielt. Sie fand nämlich, dass der Graf Görtz ihren Sohn gründlich verzogen habe. Darüber verlor sie die Lebensfreude, wie sie dem Hessen-Darmstädtischen Kriegsrat Merck schrieb (Leuschner et al 2007). Als nun auf ihr Betreiben hin Goethe eingetroffen war, kehrte die Lebenslust wieder. Goethe erheiterte ihr Gemüt. Er hatte ein Singspiel mitgebracht: „Erwin und Elmire“, sie komponierte die Musik dazu. Aufgeführt wurde es am Liebhaber-Theater am 24. Mai 1776. Dies ist nur ein Beispiel für das reiche, gemeinsam entwickelte kulturelle Leben in Weimar. Anna Amalia beherrschte fünf Instrumente und war in fünf Sprachen zuhause, interessierte sich für Kunst und Literatur – kurz: Goethe und sie waren einander in ihren Talenten und Interessen sehr nahe. Frau v. Stein, von der Carl August 1828 schrieb: „Die Frau v. Stein ist eine recht gute Frau gewesen, aber eben kein großes Licht“ (Ghibellino 2007, S. 23), war eine Frau mit einer depressiven Charakterstruktur, stets kränkelnd und mit Kopfschmerzen behaftet (Speidel 2010). Wilhelm Bode sagte, sie habe schon früh mit dem Leben abgeschlossen (Bode 1910). Männern gegenüber war sie ambivalent. So schrieb sie einmal an Knebel, es wäre besser, wenn es keine Männer gäbe. Sicher ist damit gemeint, dass sie die Sexualität der Männer ablehnte, während sie sie als Fürsorgeobjekt akzeptierte und benötigte, wie wir aus ihrer Beziehung zu Goethe und Schiller wissen (Speidel 2010; vgl. v. Urlichs 1982). Als Gegenleistung erhielt sie von ihnen geistige Nahrung und wertvolle Informationen, die sie ihrerseits für Weimar zu einer wichtigen Informantin machten. Das genoß sie. Die Rolle als loyale Hofdame, die ihr die Rolle der vorgeblichen Geliebten Goethes aufbürdete, war nicht nur eine Last. Sie saugte auch Honig aus ihr. Ihrem Mann und ihren Söhnen gegenüber –  außer Fritz – war sie auffallend lieblos (Speidel 2010). Als Goethe nach Italien geflohen war, sprachen ihre Briefe allenfalls von einer milden Enttäuschung. Sie verfolgte seine Reise aber mit Interesse und gab seine Informationen weiter. Als er zurückkehrte, waren sie entfremdet, und sie verfolgte Christiane mit Haß und Verachtung. Denn, so muß man folgern: Christiane hatte sie als Versorgerin abgelöst, und sie war von den Informationen fortan abgeschnitten (Speidel 2010).
Frau v. Stein hatte loyal eine Rolle übernommen; sie war darüber hinaus sicher für Goethe auch wichtig gewesen, als Versorgerin und als Kennerin des Hofes. Goethe schrieb einmal an Knebel, „die Stein“ sei wie ein Korkwams, das ihn über Wasser halte, selbst wenn er sich ersäufen wollte (Bode 1910). Damit hat er sie, bei aller Scherzhaftigkeit dieses Bildes, in ihrer Bedeutung für ihn charakterisiert und gewürdigt.  Von der Vorstellung, dass sie die große Liebe seiner zehn ersten Weimarer Jahre gewesen sei, müssen wir uns allerdings sicher verabschieden. Es spricht alles dagegen.
Vermutlich in Sizilien entwickelte Goethe die Vorstellung, es sei unausweichlich, seine Beziehung zu Anna Amalia von einer sinnlichen Liebe in eine treue Freundschaft zu verwandeln (Ghibellino 2007, S. 85 ff). Eine geheime Nachtbeziehung lässt sich nicht ein Leben lang aufrecht erhalten, ohne dass die Liebe zugrunde geht. Insofern ist vielleicht dem jungen Fritz v. Stein zu danken.
Anna Amalia half sich zunächst mit einer Italienreise, die so lange dauerte wie diejenige Goethes. Danach aber senkte sich, wie sich aus ihren Korrespondenzen ablesen lässt, ein depressiver Schleier auf ihr Gemüt (Speidel 2010), und Goethe wird in der Folgezeit als ausgelöschter Stern (Charlotte v. Stein 1793, zit. n. Ghibellino 2007, S. 108), als schroff, wortkarg, spießbürgerlich, steif und so kalten Gemütes wie eine Eisscholle, mehr abschreckend als anziehend (Gräfin v. Egloffstein, Schilderung Goethes für die Jahre 1795 – 1797, zit. n. Ghibellino 2007, S. 108) beschrieben. Friedrich Münter schreibt am 5. Juli 1791 in sein Tagebuch: „Er ist ein sehr unglücklicher Mensch. Muß beständig mit sich selbst in Unfrieden leben“ (zit. n. Ghibellino 2007, S. 108). Es ist die Schilderung eines Depressiven. Seine Überlebenschance ist die Transformation seiner Gedanken und Emotionen in Poesie, die sich hinfort als sublimierte Treue zu Anna Amalia interpretieren läßt. Als diese am 10. April 1807 starb, ging es Goethe so schlecht, dass Johanna Schopenhauer am 28. April ihrem Sohn schrieb: „Goethe ist dem Tode nahe gewesen“ (a.a.O., S. 202 f).
Mit Ghibellinos Theorie löst sich nicht nur die eine scheinbare Bizzarrerie in Goethes Frauenbeziehungen auf, sondern auch die andere: die Verbindung mit Christiane Vulpius, die Goethe nicht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als seine Lebenspartnerin vorstellte – sein Freund Schiller beachtete sie gar nicht –, obwohl sie ihm und er ihr verbunden war, mit ihr einen Sohn hatte und noch mehr Kinder hatte haben wollen.
Seine eigentliche Partnerin und Geliebte war Ghibellino zufolge Anna Amalia, aber die Beziehung zu ihr,  für die Ghibellino viele Zeugnisse entdeckt hat, war erschwert. Seine Nachtgedichte und die Mignon-Gedichte sprechen dafür, auch, dass Cimarosas „Il matrimonio segreto“ („Die heimliche Ehe“) seine Lieblingsoper war und die Geschichte von Amor und Psyche, die sich nur in stockdunkler Nacht begegnen dürfen, sein griechischer Lieblingsmythos.
Eine solche Nachtliebe ist aber keine lebenslange Lösung für eine große Liebe. Sie muß sich transformieren oder auflösen. Goethe hat – schweren Herzens, wie seine jahrelange Depression nach seiner Rückkehr aus Italien zeigt –, den Weg in die Entsagung wählen müssen, wofür er den Untertitel – Die Entsagenden – von Wilhelm Meisters Wanderjahren und deren Inhalt Zeugnis sein lässt. Daß er nicht Mönch werden konnte, brachte ihn in ein Dilemma, das nur mit großen Opfern lösbar war: er musste seinen Bedürfnissen nach Partner- und Elternschaft Rechnung tragen, aber seiner eigentlichen Geliebten möglichst wenig Kränkung zumuten und ihr vor allem mit Gedanken und Gefühlen treu bleiben. Seine Lösung war, keine standesgemäße Partnerin zu wählen, die ihm mit Henriette v. Egloffstein und dem Fräulein v. Voß vorgeschlagen worden waren. Sein Kompromiß war die Beziehung zu einem Bürgermädchen, das er nicht heiratete. Seiner eigentlichen Geliebten, mit der er sich verheiratet fühlte (Ghibellino 2007, S. 238), opferte er auch die eheliche Geburt seines Sohnes. Er wagte die Heirat erst am 19. Oktober 1806, nach 18 Jahren, als Anna Amalia in der Sorge um ihre Enkelin während der französischen Okkupation vom 14. bis 30. Oktober 1806 ortsabwesend war (a.a.O., S. 240). Wer weiß, ob dies für Anna Amalia nicht der Todesstoß war, denn sie starb nur sechs Monate später. Man mag Goethes Verhalten tadeln, aber es ist der Beleg für die tiefe Verbundenheit mit Anna Amalia, der er lange nicht, dann aber doch die Kränkung einer Heirat mit Christiane zumuten musste. Als Zeugnis dieser lebenslangen Verbundenheit darf man wohl den West-östlichen Divan  (1814-1818) ansehen, den größten Zyklus von Liebesgedichten, für den sich Marianne von Willemer wohl fälschlich als Sehnsuchtspartnerin und Mitautorin anbot, als niemand mehr lebte, der sie hätte widerlegen können. Es wäre nicht der erste Schwindel in ihrem Leben gewesen (a.a.O., S. 205 ff) und einer, für dessen Entdeckung es eines gelernten Staatsanwalts bedarf.

Literatur

Bergmann F (1981) (Hrsg.), Eckermann JP Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Insel, Frankfurt a.M. und Leipzig

Beyer S, Jenny U (2008) Goethes allmächtige Fee. Der Spiegel 39

Bode W (1910) (Hrsg) Stunden mit Goethe für die Freunde seiner Kunst und Weisheit. Bd. IV. Briefe der Frau von Stein an Knebel. Mitgeteilt von W. Bode. 1776-1788, S. 153-199, 1780-1792, S. 233-259. Ernst-Siegfried Mättler, Berlin

Borchmeyer D (2009) Das absolute Fugengewicht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.Oktober

Eissler KR (1984-1985) Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775-1786, Bd. 1, 2. Aufl., Bd. 2. Stroemfeld/Roter Stern. Basel-Frankfurt a.M.

Fränkel J (1960) (Hrsg) Goethes Briefe an Charlotte von Stein. 3 Bde. Akademie-Verlag. Berlin

Freud S (1955) Goethe-Preis 1930. Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus. GW XIV, S. 543-550. Imago Publ., London

Geiger L (o.J.) (Hrsg) Frau Rat Goethe. Gesammelte Briefe. Hesse & Becker. Leipzig

Ghibellino E (2007) J.W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe? 3. Aufl. Dr. A.J. Denkena. Weimar

Goethe JW v. (2000a) Gedichte und Epen II. Bd. 2. Hamburger Ausgabe. DTV. München

Goethe JW v. (2000b) Faust, erster Teil. Werke, Bd. 3, S. 60. Hamburger Ausgabe. DTV. München

Goethe JW v. (2000c) Torquato Tasso, Werke Bd. 5, S. 73-167. Hamburger Ausgabe. DTV. München

Goethe JW v. (2000d) Novelle. Werke, Bd. 6, S. 419-513. Hamburger Ausgabe. DTV. München

Goethe JW v. (2000e) Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Werke, Bd. 9. Hamburger Ausgabe. DTV. München

Goethe und Anna Amalia – Eine verbotene Liebe? Zum Versuch, eine neue Weimar-Legende zu begründen – Stellungnahme der Klassik Stiftung Weimar zu den Hypothesen Ettore Ghibellinos. http.//www.klassik-stiftung.de

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Weiß S, Ghibellino E (2008) Erwiderung zu “Stellungnahme des Klassik Stiftung Weimar zu den Hypothesen Ettore Gibellinos“. Dr. A. J. Denkena. Weimar

Prof.  Dr. med. Hubert Speidel
Eichhofstraße 14, 24116 Kiel