Im Jahr 2004 war ich eingeladen, bei den Lindauer Psychotherapiewochen einen Hauptvortrag zu halten. Es ging eine von zwei Wochen lang um das Herz, und die Veranstalterin, Verena Kast, hatte sich wohl erinnert, dass ich im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in Hamburg zwölf Jahre lang ein großes Projekt über die Problematik der Herzoperierten geleitet hatte. Sie gab mir als Thema auf: „Herzschmerz und Leidenschaft“. Nun war Herzschmerz damals nicht im Zentrum meiner Forschung gewesen und Leidenschaft kam dort gar nicht vor. Ich sagte mir, dieses Thema sei eigentlich ein literarisches, und dazu hatte ich ohnehin mehr Lust als zu meinen inzwischen schon länger zurückliegenden empirischen Forschungsthemen. Als Hauptredner hat man ja alle Freiheit. Man darf nur nicht das Publikum langweilen. Ich lieferte in Kürze den state of art ab und beschloß, Herzschmerz und Leidenschaft fände sich vor allem im Roman des 19. Jahrhunderts, und, quasi als Portal zu meinem selbstgewählten Rahmen, wollte ich mit Goethes Wahlverwandtschaften beginnen. Während meiner Recherchen stieß ich zufällig auf ein Buch mit dem Titel „Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe?“ Mein Interesse war sofort geweckt, und dafür hatte ich zwei Gründe: ich beschäftigte mich mit Goethes Roman, und ich hoffte, mein Interesse am Autor selbst wieder zu beleben. Das hatte ich nämlich schon als Jüngling verloren, weil ich ihn – als Person – nicht verstand. Ich hatte gelesen, dass er vor den Frauen immer davongelaufen sei, was meinem jugendlichen Selbstverständnis sehr zuwider war. Die Geschichte mit Frau v. Stein verstand ich auch nicht. Damals wußte ich nicht, dass niemand sie verstand und die ganze Fachwelt angesichts der Rätselhaftigkeit bedenklich das Haupt wiegte. Mir war vor allem schleierhaft, warum Josias v. Stein nicht Goethe zum Duell forderte, wenn seine Frau Goethes Geliebte war. Damit war er doch in dem 6000-Seelen-Städtchen Weimar blamiert. Ich hielt ihn also für einen Trottel. Anders als der Autor des Buches, den ich zunächst fälschlich für einen italienischen Germanisten hielt – er heißt Ettore Ghibellino und ist ein promovierter Staatsanwalt – zog ich mein Interesse von Goethe ab. *In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Ann Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A. J. Denkena Verlag, Weimar 2012, 1. Aufl., S. 25-52 Dieses Buch nun, damals in erster Auflage (2003), traf mich wie ein Donnerschlag: zum erstenmal glaubte ich, Goethe zu verstehen. Plötzlich war er kein Denkmal mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Für meinen Vortrag war das sehr stimulierend. Ich wurde auf Goethes Werke wieder neugierig, und ich stieß z. B. auf die „Novelle“ (Goethe 2000 b), die ich als Schüler gelesen und sterbenslangweilig gefunden hatte. Nun aber las ich sie unter dem Einfluß von Ghibellinos Hypothese, dass nämlich nicht Frau v. Stein, sondern die Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach die Geliebte Goethes gewesen sei (Ghibellino 2007), erneut und entdeckte anscheinend als Erster den autobiographischen Bezug. Goethe erzählt folgende Geschichte: Herzog und Herzogin samt Gefolge reiten zur Jagd. Im Gehege eines Schaustellers bricht ein Brand aus, und ein ausbrechender Tiger bedroht die Herzogin. Ein junger Ritter erschießt den Tiger. Den Germanisten war nicht entgangen, dass zwischen der Herzogin und dem Ritter zarte Gefühle entstehen, mehr aber nicht. Warum nicht – dafür steht der Tiger als Sinnbild einer ausbrechenden gefährlichen Leidenschaft. Ich hatte meine Entdeckung in einer kleinen Fußnote meines Vortrags in einem psychosomatischen Fachjournal veröffentlicht (Speidel 2005), und dort hatte es Ghibellino im Internet entdeckt. Er schrieb mir einen Brief und fragte, ob ich mich nicht an den Forschungen seiner Weimarer Arbeitsgruppe beteiligen wolle. Ich zögerte und antwortete ihm schließlich, ich sei ja kein Goetheforscher. Was ich mir zutrauen könne, sei, mich kritisch mit Kurt Eissler auseinander zu setzen. Er war schließlich ein psychoanalytischer Kollege von mir. Eissler, ein Wiener jüdischer Emigrant, der in New York gelebt hatte, veröffentlichte 1963 eine große psychoanalytische Studie über Goethes erste zehn Weimarer Jahre, die 1983 und 1985 in deutscher Übersetzung erschienen war. Ich hatte sie damals gekauft, aber nie gelesen, sondern sie dem Hamburger Herzchirurgen Rodewald, mit dem ich lange Jahre zusammen geforscht hatte, zu seiner Emeritierung geschenkt. Ich dachte, der habe nun im Gegensatz zu mir Zeit für so etwas. Später, als ich mich doch wieder dafür interessierte, war das Werk vergriffen, aber wie der Zufall spielt: eine alte, befreundete Psychoanalytikerin hatte mir in ihrem Nachlaß zugestanden, mich in ihrer Bibliothek zu bedienen, und so kam ich wieder zu Eisslers 1800-seitigem opus magnum, rechtzeitig, um Ghibellino meine Mitarbeit anbieten zu können. Was für mich an Ghibellinos Buch so überzeugend ist, beschränkt sich nicht auf meine anfängliche Begeisterung, an dem rätselhaften Goethe soviel Menschliches und vor allem Nachvollziehbares entdeckt zu haben. Vielmehr stehen bzw. standen dem Verständnis Goethes so viele Widersprüche und Rätsel entgegen, die von der Forschung nicht geklärt werden konnten. „Warum blieb Goethe 1775 in Weimar und wurde dort trotz erbitterter Widerstände mit nur 26 Jahren Minister? Warum heiratete er nicht, um statt dessen eine undefinierbare Liaison mit der verheirateten Frau v. Stein einzugehen?“ (Ghibellino 2007, S. 11), was noch niemand verstanden hatte bzw. schlüssig erklären konnte? Wie es der alte Merkvers sagt: Frau v. Stein went to bed at nine. If Goethe went too, nobody knew. “Warum brach er 1786 überstürzt nach Italien auf und wartete dann wochenlang in der Hafenstadt Venedig? Warum nahm Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien Christiane Vulpius zur Geliebten, obwohl er sie nicht als ebenbürtig behandelte? Und warum heiratete er sie dann fast zwei Jahrzehnte nicht,...