Warum muß man Ghibellino bekämpfen, wenn man ihn doch nicht widerlegen kann? (2012)

Im Jahr 2004 war ich eingeladen, bei den Lindauer Psychotherapiewochen einen Hauptvortrag zu halten. Es ging eine von zwei Wochen lang um das Herz, und die Veranstalterin, Verena Kast, hatte sich wohl erinnert, dass ich im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in Hamburg zwölf Jahre lang ein großes Projekt über die Problematik der Herzoperierten geleitet hatte. Sie gab mir als Thema auf: „Herzschmerz und Leidenschaft“. Nun war Herzschmerz damals nicht im Zentrum meiner Forschung gewesen und Leidenschaft kam dort gar nicht vor. Ich sagte mir, dieses Thema sei eigentlich ein literarisches, und dazu hatte ich ohnehin mehr Lust als zu meinen inzwischen schon länger zurückliegenden empirischen Forschungsthemen. Als Hauptredner hat man ja alle Freiheit. Man darf nur nicht das Publikum langweilen. Ich lieferte in Kürze den state of art ab und beschloß, Herzschmerz und Leidenschaft fände sich vor allem im Roman des 19. Jahrhunderts, und, quasi als Portal zu meinem selbstgewählten Rahmen, wollte ich mit Goethes Wahlverwandtschaften beginnen. Während meiner Recherchen stieß ich zufällig auf ein Buch mit dem Titel „Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe?“ Mein Interesse war sofort geweckt, und dafür hatte ich zwei Gründe: ich beschäftigte mich mit Goethes Roman, und ich hoffte, mein Interesse am Autor selbst wieder zu beleben. Das hatte ich nämlich schon als Jüngling verloren, weil ich ihn – als Person – nicht verstand. Ich hatte gelesen, dass er vor den Frauen immer davongelaufen sei, was meinem jugendlichen Selbstverständnis sehr zuwider war. Die Geschichte mit Frau v. Stein verstand ich auch nicht. Damals wußte ich nicht, dass niemand sie verstand und die ganze Fachwelt angesichts der Rätselhaftigkeit bedenklich das Haupt wiegte. Mir war vor allem schleierhaft, warum Josias v. Stein nicht Goethe zum Duell forderte, wenn seine Frau Goethes Geliebte war. Damit war er doch in dem 6000-Seelen-Städtchen Weimar blamiert. Ich hielt ihn also für einen Trottel. Anders als der Autor des Buches, den ich zunächst fälschlich für einen italienischen Germanisten hielt – er heißt Ettore Ghibellino und ist ein promovierter Staatsanwalt – zog ich mein Interesse von Goethe ab. *In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Ann Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A. J. Denkena Verlag, Weimar 2012, 1. Aufl., S. 25-52 Dieses Buch nun, damals in erster Auflage (2003), traf mich wie ein Donnerschlag: zum erstenmal glaubte ich, Goethe zu verstehen. Plötzlich war er kein Denkmal mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Für meinen Vortrag war das sehr stimulierend. Ich wurde auf Goethes Werke wieder neugierig, und ich stieß z. B. auf die „Novelle“ (Goethe 2000 b), die ich als Schüler gelesen und sterbenslangweilig gefunden hatte. Nun aber las ich sie unter dem Einfluß von Ghibellinos Hypothese, dass nämlich nicht Frau v. Stein, sondern die Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach die Geliebte Goethes gewesen sei (Ghibellino 2007), erneut und  entdeckte anscheinend als Erster den autobiographischen Bezug. Goethe erzählt folgende Geschichte: Herzog und Herzogin samt Gefolge reiten zur Jagd. Im Gehege eines Schaustellers bricht ein Brand aus, und ein ausbrechender Tiger bedroht die Herzogin. Ein junger Ritter erschießt den Tiger. Den Germanisten war nicht entgangen, dass zwischen der Herzogin und dem Ritter zarte Gefühle entstehen, mehr aber nicht. Warum nicht – dafür steht der Tiger als Sinnbild einer ausbrechenden gefährlichen Leidenschaft.  Ich hatte meine Entdeckung in einer kleinen Fußnote meines Vortrags in einem psychosomatischen Fachjournal veröffentlicht (Speidel 2005), und dort hatte es Ghibellino im Internet entdeckt. Er schrieb mir einen Brief und fragte, ob ich mich nicht an den Forschungen seiner Weimarer Arbeitsgruppe beteiligen wolle. Ich zögerte und antwortete ihm schließlich, ich sei ja kein Goetheforscher. Was ich mir zutrauen könne, sei, mich kritisch mit Kurt Eissler auseinander zu setzen. Er war schließlich ein psychoanalytischer Kollege von mir. Eissler, ein Wiener jüdischer Emigrant, der in New York gelebt hatte, veröffentlichte 1963 eine große psychoanalytische Studie über Goethes erste zehn Weimarer Jahre, die 1983 und 1985 in deutscher Übersetzung erschienen war. Ich hatte sie damals gekauft, aber nie gelesen, sondern sie dem Hamburger Herzchirurgen Rodewald, mit dem ich lange Jahre zusammen geforscht hatte, zu seiner Emeritierung geschenkt. Ich dachte, der habe nun im  Gegensatz zu mir Zeit für so etwas. Später, als ich mich doch wieder dafür interessierte, war das Werk vergriffen, aber wie der Zufall spielt: eine alte, befreundete Psychoanalytikerin hatte mir in ihrem Nachlaß zugestanden, mich in ihrer Bibliothek zu bedienen, und so kam ich wieder zu Eisslers 1800-seitigem opus magnum, rechtzeitig, um Ghibellino meine Mitarbeit anbieten zu können. Was für mich an Ghibellinos Buch so überzeugend ist, beschränkt sich nicht auf meine anfängliche Begeisterung, an dem rätselhaften Goethe soviel Menschliches und vor allem  Nachvollziehbares entdeckt zu haben. Vielmehr stehen bzw. standen dem Verständnis Goethes so viele Widersprüche und Rätsel entgegen, die von der Forschung nicht geklärt werden konnten. „Warum blieb Goethe 1775 in Weimar und wurde dort trotz erbitterter Widerstände mit nur 26 Jahren Minister? Warum heiratete er nicht, um statt dessen eine undefinierbare Liaison mit der verheirateten Frau v. Stein einzugehen?“ (Ghibellino 2007, S. 11), was noch niemand verstanden hatte bzw. schlüssig erklären konnte? Wie es der alte Merkvers sagt: Frau v. Stein went to bed at nine. If Goethe went too, nobody knew. “Warum brach er 1786 überstürzt nach Italien auf und wartete dann wochenlang in der Hafenstadt Venedig? Warum nahm Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien Christiane Vulpius zur Geliebten, obwohl er sie nicht als ebenbürtig behandelte? Und warum heiratete er sie dann fast zwei Jahrzehnte nicht,...

Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur

Einleitung Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand. Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein. Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als  schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen. Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, for-melle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung. Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. In: Brigitte Boothe (Hrsg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Autonomie des Wun-sches, rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich, 1. Aufl. 2013, S. 162-181 Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen. Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird. Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung. Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen. Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft. Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen  Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung. Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen. Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge.  Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007). Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi etwas Grundsätzliches geändert hat: im Sühnetod Christi als radikale Stellvertretung, mit dem Gottes Gnade seinen Zorn überwindet, mit der...

Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012)*

Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012)* In der reichhaltigen Lyrik der ersten zehn Weimarer Jahre Goethes gibt es eine Reihe von kleinen Gelegenheitsgedichten, die sich mit Frauen aus Goethes Umgebung beschäftigen, z. B. mit Gustgen, Fräulein v. Stein, Fräulein v. Waldner, Frau v. Werthern, Caroline Ilten, Herzogin Luise, Mamms. Schröter, Fräulein Nostitz, Fietgen, Fräulein Volgstedt, Malchen Hendrich, Fräulein Reinbaben, Anngen Müllern, Fräulein Göchhausen, Fräulein v. Oppel, Frau v. Witzleben, Gräfin Giannini, Frau v. Oertel, Frau v. Felgenbauer, Fräulein v. Wöllwarth, Frau v. Lichtenberg. Es sind poetische Persönlichkeitsskizzen, die mit wenigen Strichen prägnant charakterisieren, ehrerbietig wie bei Herzogin Luise, Auguste zu Stolberg und Frau v. Witzleben, liebevolle (Fietgen, Fräulein v. Oppel, Gustgen, Frau v. Felgenbauer, Frau v. Oertel), ironische (Fräulein Reinbaben, Frau v. Werthern, Frau v. Lichtenberg), auch leicht karikierende (Fräulein Nostitz), solche mit erotischem Beiklang (Mamms. Schröter, Anngen Müllern), pädagogische (Fräulein v. Stein), mahnend-tadelnde (Malchen Hendrich). Anna Amalia kommt hier namentlich wie in allen anderen Gedichten der zehn ersten Weimarer  Jahre nicht vor, dagegen Frau v. Stein mit folgenden Zeilen: Du machst die Alten jung die Jungen alt Die Kalten warm, die Warmen kalt Bist ernst im Scherz, der Ernst macht dich zu lachen, Dir gab auf´s menschliche Geschlecht Ein süßer Gott sein  längst bewährtes Recht Aus Weh ihr Wohl, aus Wohl ihr Weh zu machen. Was für eine Persönlichkeit wird uns hier geschildert? Goethe beschreibt sie als eine komplizierte, im Umgang schwierige, weil in ihren Reaktionen *In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A.J. Denkena Verlag, Weimar, 1. Aufl. 2012, S. 7-24 unvorhersehbare, unberechenbare Persönlichkeit voller Gefühlsambivalenz. Sie wird als emotional und wohl auch materiell Versorgende, aber Gefühl und Humor Mäßigende, gar Verhindernde beschrieben. Es ist vor allem eine Person, die Nähe und Leidenschaft nicht verträgt, und Goethe beantwortet diese Distanz mit ironischer Distanzierung: „Ein süßer Gott ….“ Es ist derselbe ironisch-distanzierte Ton, den Goethe, durchaus wohlwollend, in einem Brief an Carl Ludwig v. Knebel anschlägt: „Die Stein hält mich wie ein Korkwams über dem Wasser, daß ich mich auch mit Willen nicht ersäufen könnte“(8). Ähnlich distanziert gegenüber Goethe ist Charlotte v. Stein in ihren Briefen an Knebel, wenn sie wiederholt seine literarischen Produkte kritisiert. Es ist nicht der Ton zwischen Liebenden und nicht der hohe Ton der Liebesgedichte Goethes aus seinem ersten Weimarer Jahrzehnt. Karl Eibl, der Goethes Gedichte in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgegeben hat (1; 2), ahnt zwar etwas von der Rätselhaftigkeit der Beziehung zwischen Goethe und Charlotte v. Stein, wenn er schreibt: „Die ganze Tiefe der Beziehung zu Charlotte v. Stein konnten selbst die Freunde nur ahnen. In Goethes vielfältigen Bekenntnissen kommt sie nicht vor, und auch von Eckermann oder anderen Gesprächspartnern werden keine auf sie bezüglichen Äußerungen überliefert“ (1, S. 953). Weil er aber wie fast alle seiner Kollegen und fast alle an Goethe Interessierten an die Liebesbeziehung zwischen Goethe und Frau v. Stein glaubt(e), stellt er die Gedichte „Meine Göttin“, „Der Becher“, „Du machst die Alten jung, die Jungen alt“ und „Der vierte Teil meiner Schriften“ nebeneinander und kommentiert: „Die chronologische Anordnung der Gedichte mit ihrem Nebeneinander von gereimten Gelegenheitsscherzen, Augenblicksimpressionen und Versuchen, das Rätsel dieser Liebe poetisch zu ergründen, kann in ihrem Kunterbunt etwas von der Spannweite dieser Beziehung vermitteln“ (1, S. 957). Es ist ein Beispiel dafür, dass die Briefe Goethes an Charlotte v. Stein seit ihrer Veröffentlichung durch Adolf Schöll 1848-1851 nicht, wie allgemein angenommen, in einem Erkenntnissprung, sondern in einem Glauben, einer Ideologie mündete, die, wie wir es auch aus der Politik kennen, so festgefügt ist, wie Wissenschaft, wäre sie wirksam, gar nicht werden könnte. Vor der Veröffentlichung dieses Konvoluts war man weiter: Ettore Ghibellino zitiert Victor Hehn, der 1848 schrieb, Goethes Geliebte „gehört der höheren Region an, so viel ist gewiß.“ Hehn schrieb von „fürstliche[r] Geliebte[n]“, von „hohe[r] Geburt“, „Reichtum und persönliche[n] Eigenschaften der Schönheit und Lieblichkeit“ (3, S.132). Er wusste zwar nicht, wer Goethes Geliebte war, aber er las genau und war noch nicht von dem ideologischen Sog der Briefe geblendet. Wenn man bedenkt, dass die Auswahl der nach seinem Steckbrief in Frage kommenden Frauen in dem kleinen Land äußerst gering war, sozusagen n=1, so war ihm der nächste Schritt vielleicht nur verwehrt, weil die schiere Erwähnung Anna Amalias derzeit ein Sakrileg gewesen wäre. Schließlich war Marie Antoinette entehrt und Struensee gevierteilt (vgl. 3). Wenn wir im Jahr 2012 im Internet nach den Frauen um Goethe suchen, so sind sie alle säuberlich aufgezählt. Anna Amalia, mit der Goethe so viel öffentliches Leben teilte, kommt nicht vor. Das Sakrileg überdauert, und die große sowie die kleinen Weimarer Nachbargesellschaften samt Fremdenführern wachen darüber. Betrachten wir die Zitate aus den Knebel-Korrespondenzen und stellen sie neben das zitierte Ambivalenzgedicht, so bilden sie einen gemeinsamen Beziehungsstil ab, der durch eine gegenseitige kritische Distanz gekennzeichnet ist. Von hier aus gibt es keine emotionale Brücke zu den Liebesgedichten derselben Ära. Es gibt auch keine gedankliche Brücke, die es gestatten würde, sich die Empfängerin der zitierten Verse und der Liebesgedichte als ein und dieselbe Person vorzustellen. Eibl hat zwar von der „Spannbreite“ der in den Gedichten dieser Zeit vorkommenden Inhalte, Gestimmtheiten und Beziehungsformen gesprochen, aber er steht konzeptionell in den Fesseln einer Vorannahme, die ihn sogar zu einer Fehlleistung verleitete: er kennt keine Äußerung Goethes über Frau v. Stein, obwohl er selbst das zitierte Gedicht erwähnt. Es ist allerdings keines der Liebesgedichte, in denen alles vorkommt, was zur Liebe gehört....

Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur

Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur Hubert Speidel In: Brigitte Boothe (Hrsg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches 162-181. rüffer & rub Sachbuchverlag Zürich 2013   Einleitung Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand.   Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein.   Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen.   Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, formelle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung.   Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen. Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird.   Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung.   Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen.   Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft.   Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung.   Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen.   Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge. Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007).   Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi...