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Studientag des Adolf-Ernst-Meyer-Instituts 5. Dezember 2015 Wer war Adolf-Ernst Meyer? Aus Anlass des 90. Geburtstags von Adolf-Ernst Meyer Download der Datei Hubert Speidel Adolf-Ernst Meyer und die Entwicklung der Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland Adolf-Ernst Meyer hat sich bei einer Veranstaltung einmal als Gastarbeiter bezeichnet, und das heißt, wenn man den Vorhang dieses für ihn typischen Understatements lüftet, unter anderem, dass er in Zürich bei berühmten Lehrern wie Manfred Bleuler, Hess, Bally, Boss und anderen eine vorzügliche Ausbildung in Psychotherapie, Psychoanalyse, Neurologie, Neurochirurgie und Innerer Medizin erhalten hatte, – der Nobelpreisträger Hess war sein Doktorvater, Bally sein Lehranalytiker -, bevor er 1957 nach Hamburg kam, um in der damaligen psychoanalytischen Abteilung von Ulrich Ehebald im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll psychotherapeutische Praxiserfahrung zu erwerben. Folgt man seiner eigenen Darstellung, so erscheint es eher wie ein glücklicher Zufall, dass er uns in Hamburg erhalten blieb: Es fehlten ihm zur Facharztanerkennung noch einige Monate Innerer Medizin, und eine DFG-Stelle bei Arthur Jores bot sich an. Bei Dienstantritt am 1.Mai 1958 nahm ihn sein Partner der folgenden Zeit, ebenfalls mit einer DFG-Forschungsstelle bedacht, beiseite. Es war Detlef von Zerssen, dem durch einige Monate Erfahrung am Universitätskrankenhaus Eppendorf die Naivität schon abhanden gekommen war. In einem Café an der Alster, so wird berichtet, vermutlich bei Bobby Reich, gab er dem zwar schon durch hämische Bemerkungen anderer über den gemeinsamen Chef Arthur Jores und dessen psychosomatischer „Narretei“, wie es hieß, etwas vorbereiteten Schweizer Gastarbeiter den letzten Verhaltensschliff. Ich zitiere v. Zerssens Richtlinien im Originalton Adolf-Ernst Meyers: „1. Im Zweifelsfall fragen Sie mich. 2. Wann immer Sie etwas veranlassen, tun Sie es schriftlich und mit Kopien an Chef und alle vier Oberärzte. 3. Solange Sie eine Krankengeschichte nicht vollständig ausgewertet haben, schließen Sie sie weg. 4. Wenn ein Oberarzt Sie besonders freundlich grüßt, ist höchste Gefahr im Verzug, überlegen Sie, wo Sie verwundbar sein könnten. 5. In allen übrigen Fällen tritt Regel 1 in Kraft.“ Man muss sich die Situation damals vorstellen: Die Oberärzte von Jores hatten ihn als einen hervorragenden Endokrinologen erlebt und waren enttäuscht über die seltsame psychosomatische Liebhaberei des Chefs. Es war die Kriegsgeneration, soweit sie Rußland überlebt hatte. Einer davon, der Kardiologe Gadermann, gehörte zu den höchstdekorierten Frontoffizieren des 2. Weltkrieges; die Umgangsweisen waren dementsprechend. Von Zerssen zitiert einen von ihnen: „Lassen Sie die Finger davon, wir haben noch jeden abgeschossen!“ Ich weiß nicht, ob es jener Kriegsheld war, den ich schon als Kind bewunderte, weil er hunderte feindlicher Flugzeuge abgeschossen hatte. Seine größte Heldentat war, dass er hinter den russischen Linien landete, weil dort sein Chef Udet abgestürzt war und er ihn rettete. Gadermann war übrigens ein ausgesprochen liebenswürdiger, unintriganter Mensch. Von ihm wird überliefert, dass er ohne anzuklopfen in Adolf-Ernst Meyers Zimmer trat und sich damit entschuldigte: „Die reden doch bloß.“ In Adolf-Ernst Meyer waren sie aber an den Falschen geraten – in unserem Sinne muss man sagen, an den Richtigen. Schließlich hatte er sich schon beim schweizerischen Militär als verlachter Städter gegen die groben Bauernburschen behaupten müssen, dem Vernehmen nach sehr erfolgreich. Man kann es den hartgesottenen Joresschen Oberärzten nicht verdenken: Die Joressche Psychosomatik war eine große Pioniertat, verdienstvoll, begeisternd und mitreißend für Studenten und Anfänger wie mich, aber sie war auch naiv, und das nahmen seine erfahrenen Kämpen wohl wahr. Adolf-Ernst Meyer auch. Charakteristisch in diesem Sinne war der Forschungsauftrag an Adolf-Ernst Meyer und Detlef von Zerssen: Sie sollten sich mit dem Hirsutismus beschäftigen, von dem Jores meinte, es gäbe keine endokrinologischen Befunde, und deshalb sei es wohl eine psychosomatische Erkrankung, also im Sinne einer Psychogenie. Wie Adolf-Ernst Meyer und Detlef v. Zerssen sich nun aber dem Forschungsgegenstand näherten, das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Sie fielen nicht auf eine psychosomatische Mythologie herein. Sie begründeten vielmehr an diesem Beispiel eine moderne, interdisziplinäre, empirische Psychosomatik, und sie waren damit wegweisend. Genauer gesagt: Sie eröffneten am Universitätskrankenhaus Eppendorf der Psychosomatik überhaupt erst eine Zukunft. Sie verschafften sich den Respekt der Kliniker, weil sie, wie es wohl etwas karikierend heißt, wussten, was Mittelwert und Streuung ist, obwohl sie sich, was von heute aus gesehen erstaunlich klingt, in die Statistik selber erst einarbeiten mussten. In der Meyerschen Darstellung lautet es so: v. Zerssen sei noch eine größere statistische Flasche gewesen als er, während v. Zerssen anerkennend feststellte, dass Adolf-Ernst Meyer in der Schule doch wohl einen sehr soliden mathematischen Unterricht gehabt haben müsse. Bevor ich in aller gebotenen Kürze die wichtigsten Forschungsprojekte Adolf-Ernst Meyers nenne, deren erstes eben das Hirsutismus-Projekt war, mit dem er sich auch habilitierte, muss ich die Beziehungen zum Psychologischen Institut nennen, die sehr wichtig wurden. Hier wirkten bedeutende Professoren: Bondy, sein Nachfolger Hofstätter, Lienert, Pavlik, Tausch, und einige von ihnen erkannten offensichtlich die herausragenden Fähigkeiten Adolf-Ernst Meyers. Lienert ermutigte ihn zum Psychologiestudium, das er 1970 mit der Promotion in Konstanz abschloss. Ich erwähne das nicht aus currikulärem Interesse, sondern weil es ein Beleg für die Einsicht Adolf-Ernst Meyers in die wichtigen methodischen Ressourcen der klinischen Psychologie war, die es zu nutzen galt. Wenn ich es richtig verstehe, entsprang diese Haltung den ersten Auseinandersetzungen im UKE und den Erfahrungen mit dem Hirsutismus-Projekt, und er hat sich daran auch durch Anfeindungen, die in dieser Hinsicht nicht aus der Klinik, sondern aus der psychoanalytischen Gemeinde kamen, nie anfechten lassen. In der Forschung war er akribisch und unerbittlich, und so wurde er einer der bedeutenden Vorkämpfer und Repräsentanten moderner psychosomatischer Medizin. In seiner Selbstdarstellung „30 Jahre Psychosomatik“ nimmt von allen Forschungsinteressen das Hirsutismus-Projekt...
8. Goethe-Herbsttagung Weimar, 25. Oktober 2014 Perspektiven der Anna Amalia und Goethe-Forschung Der Mythos der faulen Äpfel Der Mythos sagt: Schiller hatte faule Äpfel in seiner Schreibtischschublade. Hier spricht der Mythos offenbar, wie es die neuere Mythos-Forschung vertritt, eine Wahrheit aus. Der Logos sagt: Friedrich Schillers Vater Johann Kaspar, der auch mein Vorfahr ist, war nicht nur Barbier, Wundarzt, Offizier und Hofgärtner des Herzogs Carl Eugen, sondern auch ein bedeutender Pomologe. Auf ihn geht zurück, dass an den württembergischen Landstraßen, wie ich es als Kind noch kannte, links und rechts Apfel- und Birnbäume standen, eine Allmende-Wirtschaft, damit auch die armen Leute ihr Obst haben und ihren Most herstellen konnten. Äpfel waren damals ein Grundnahrungsmittel, und nach der Ernte wurden sie auf dem Boden, den Zwischenböden und im Keller aufbewahrt. Die moderne Wirtschaft hat das überflüssig gemacht, und die wenigen Apfelsorten, die uns in den Supermärkten noch angeboten werden, sind auf Schönheit und Makellosigkeit hin gezüchtet. Dem wurde alles geopfert, was Äpfel früher ausmachte: Krankheitsresistenz, Vielfalt, Geschmack und Duft. Die Äpfel, die wir kaufen, aber nicht lagern, schmecken mehrheitlich nach nichts und duften überhaupt nicht. Wie sagte jener holsteinische Appelbuer: He kann de Einheitsappeln ut´n Supermarkt nich utstahn. He bit leever in sien Harvstprinz rin. (Die alte englische Sorte Ribston Pepping, die schon Johann Kaspar Schiller rühmte, ist allerdings noch besser.) Heutigen Generationen fällt das nicht auf, weil sie es nicht anders kennen. Sie wissen nicht, dass Äpfel köstlich duften würden, wenn man sie ließe. Die Häuser früherer Zeiten waren von September bis Weihnachten von dem Parfum der vielen alten Apfelsorten erfüllt. Die Äpfel faulten natürlich, damals wie heute, aber da wir keine Vorratswirtschaft kennen, erleben wir das nicht. Wir wissen deshalb auch nicht mehr, dass faule Äpfel alter Sorten noch einige Zeit genauso duften wie frische Äpfel. Wenn Schiller also Äpfel in seiner Schublade aufbewahrte, so war das keine Koprophilie, sondern sie hatten die Funktion eines Nahrungsmittels, sie waren eine Ehrung seines Vaters, sie halfen gegen das Heimweh, und sie waren ein exquisites ästhetisches Element. Wenn wir über Schillers faule Äpfel reden, so können wir uns damit auf die Wahrheit des Mythos berufen, aber es fehlt uns der Kontext, den der Logos liefert. Die Wahrheit des Mythos Dass Mythen sich mit faulen Äpfeln beschäftigen, ist eher die Ausnahme. In der Mythosforschung lassen sich vielmehr zunächst Mythen großer Reichweite, die Gründungsmythen wie das Chinesische Weltei, von den Mythen mittlerer Reichweite, z. B. der Gründung von Nationen unterscheiden (2). Schillers Äpfel gehören zu den Mythen geringer Reichweite. Noch nicht im Zusammenhang mit der Mythosforschung gesehen, wiewohl ein entwickelter Forschungszweig, ist die psychologische Narrationsforschung – ein vorläufig bestehender Mangel der in Bezug auf die Mythosforschung heutzutage notwendigen Interdisziplinarität. Die individuelle Erzählung, das Narrativ, ist nämlich ein privater Mythos, den wir durch die um Kredit beim Zuhörer bemühte Darstellung unserer Geschichte oder einer Geschichte, deren Held oder Opfer wir sind, entwickeln (4). Das Narrativ dient der Stabilisierung unseres Narzißmus und unserer sozialen Stellung. Insofern ist das Narrativ als Mythos dem politischen Mythos verwandt, der ein Mittel der Stabilisierung, des kollektiven Narzißmus, der nationalen Identität und des solidarischen Zugehörigkeitsgefühls als Mittel der kollektiven Kohärenz ist. Mythen sind gespeichertes Wissen. Im Chaos bilden sie ein Ordnungsprinzip und machen Unvertrautes vertraut. Es sind „Basiserzählungen“, aus denen sich Ritualisierungen und Tabus ableiten, die das menschliche Zusammenleben stabilisieren (2). Die Funktion des Mythos, nämlich der kollektiven Stabilisierung, wurde durch die Aufklärung erschüttert, die Welt wurde – ein Begriff von Max We-ber – entzaubert. Aus Unverfügbarem wurden Optionen. Wir leben seitdem, wie Auguste Comte sagte, im Zeitalter des Positivismus. Aber die Ersetzung der Metaphysik, des Mythos, des Glaubens, durch wissenschaftlich-rationale Denkgebäude ist selbst ein Mythos, oder, wie es Adorno und Horkheimer formulierten: wenn man Mythen abschafft, entstehen neue Mythen (a.a.O.). Adorno selbst war der Ursprung eines folgenschweren Mythos: mit scheinbarem Logos, nämlich einer schlechten wissenschaftlichen Studie über die autoritäre Persönlichkeit. Damit war er der Miturheber der Reeducation, deren Folgen Politik und Medien bis heute dominieren und in dem nationalen Mythos einer postheroischen und antifaschistischen Bundesrepublik mündeten (a.a.O.). Die Mythen also wird man nicht los, nicht die guten und nicht die schlech-ten, und wenn wir von Freiheit, Gerechtigkeit, Souveränität, Zukunftsfähigkeit, Nachhaltigkeit (a.a.O.), Transparenz, Integration, Inklusion, Emanzipation und dergleichen lesen, so sind es lauter Mythen und Kleinmythen. Auf die Illusionen der Aufklärung folgte die Romantik, und auf die Dominanz der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts folgten als Reaktion nicht nur die Psychoanalyse, die ihrerseits auch Mythenforschung ist, sondern ein bis in die neueste Zeit reichendes wissenschaftliches Interesse an den Mythen, mit bedeutenden Forschern: Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, Walter F. Otto, Karl Kerényi, Mircea Eliade, Claude Lévi-Strauss, Kurt Hübner und anderen. Der Hauptgegenstand der Forscher waren bis in die neueste Zeit zunächst die griechischen Mythen, die erstmals in ihrer Spätphase bei Hesiod und in Ilias und Odyssee notiert wurden, nicht jedoch die viel älteren chinesischen. Die Forscher verfolgten natürlich nicht die populäre abschätzige Position des Mythos als Unwahrheit, sondern – so der Titel eines Hauptwerkes von Hübner – „Die Wahrheit des Mythos“ (10). Der Mythos ist eine Erzählung, die Allgemeingut geworden ist, deshalb eine überdauernde Wirkung ausübt und damit wiederum ihre eigene Wahrheit erzeugt. Die Tell-Erzählung beispielsweise ist zu einem nationalen, identitätsstiftenden Stabilisator geworden, der die Schweiz trotz dreier unterschiedlicher Sprachen eint und u. a. auch vor den Zumutungen der EU schützt (2). Die mythische Erzählung schafft ein Verständnis der Zusammenhänge, die durch begriffliche Abstraktion und Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend...
Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar Jahresband 2015 Wilhelm Solms, Hubert Speidel, Carl Nedelmann, Ettore Ghibellino, Michael Hampe: Perspektiven der Anna Amalia und Goethe Forschung – Ergebnisse 2014 Der tödliche Ödipuskomplex Graf Mirabeau – Heinrich Schliemann – Gertrud Kolmar Theorie des Ödipuskomplexes Der von Freud benutzte griechische Mythos als Prototyp der zentralen Entwicklungsaufgabe auf dem Weg zur Normalität wie zur Neurose am Ende der frühen Kindheit ist in der fachlichen Diskussion aus der Mode gekommen, seit und weil die präödipalen, strukturellen, frühen Störungen das Interesse und Augenmerk der Psychoanalytiker gewonnen und von dem ödipalen Konflikt als Hauptinteresse abgezogen haben. Er existiert fast nur noch als das Präödipal. Der große Mythenforscher Kurt Hübner hat ihm in seinem Werk „Die Wahrheit des Mythos“ ohnehin den Todesstoß versetzt. Er schreibt: „Selbst wenn man von den mannigfachen Varianten absieht, in denen dieser Stoff seit altersher aufgetreten ist, und sein Augenmerk auf das Drama des Sophokles richtet, so gibt es so gut wie nichts darin, was auf ein komplexiöses Verhalten des Ödipus im Sinne Freuds hinweisen könnte. Wie kann Ödipus das Verlangen nach der Tötung des Vaters befriedigt haben, wenn er, als er ihn umbrachte, gar nicht wußte, daß er sein Vater ist? Wie kann er das Verlangen nach dem Beischlaf mit der Mutter befriedigt haben, wenn er nicht wissen konnte, daß es seine Mutter ist ?“ <…> „Die Eheschließung mit der Mutter <ist> keineswegs die Folge einer Liebesbeziehung zu ihr <…>“. Sie erfolgt nämlich ausschließlich deswegen, weil Ödipus mit der Errettung der Stadt die Königswürde und damit das Beilager der Königin <…> erworben hat. Was aber die Worte der Jokaste betrifft: ‚Denn viele Menschen haben wohl in Träumen schon/ der Mutter beigelegen‘, so stützten sie sich auf einen den Griechen geläufigen Topos, wonach ein solcher Traum bisweilen den Tod, bisweilen auch Landeroberung bedeuten kann <…>. Die Deutung der Ödipus-Tragödie durch Freud und seine Anhänger ist also schlechthin willkürlich. <…> Gerade weil Ödipus gottesfürchtig die schrecklichen Verbrechen vermeiden will, die ihm das Orakel voraus gesagt hat, wird er ungewollt zum Vollstrecker der Weissagung. <…> Seine Taten wirken wie die Pest, die eine ganze Stadt vergiftet. Schuld ist also hier ein Schicksal, das Götter und Orakel verhängt haben. <…> Zu einer solchen Auffassung von Schuld und Sühne gibt es keinen psychologischen Zugang im heutigen Sinne. Wir verlegen Schuld und Sühne in das ‚Innere‘ des Menschen. <…> So ist unsere Sicht eine der sophokleisch-griechischen geradezu entgegengesetzte. <…> Für Sophokles sind es die ‚objektiven‘ Ereignisse, die zählen, weil mythisches Ich und Welt, Subjekt und Objekt nicht voneinander streng getrennte Sphären darstellen, sondern eine unauflösbare Einheit darstellen. <…> Das, was wir ‚Ich‘ nennen, jenes Gegenstandsfeld der Psychologie, verschwindet mythisch in dieser Einheit.“ Soweit Hübner. Es ist eine schöne Zusammenfassung der Wahrheit des Mythos: die Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt und die Externalität der Motive in Gestalt des Ratschlusses von Göttern und Orakel. Hübner argumentiert aber Freud gegenüber mit den gedanklichen Mitteln des Logos, der eine andere Wahrheitsebene beschreibt als der Mythos, dessen Wahrheit er in seinem Buch gegen den Logos verteidigt, also das Narrativ gegen die logische Abstraktion. Hübner hat offensichtlich nicht Freuds Auseinandersetzung mit Hamlet gelesen. Freud schreibt: „Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dieselbe Stellung eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kindheitswünsche zeigt.“ Diese Gewissensskrupel seien nichts anderes als die Erscheinungsform des unbewussten Wissens, dass er „wörtlich verstanden selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder.“ Den Unterschied zwischen Ödipus und Hamlet beschreibt Freud so: „Im Ödipus wird die zugrundeliegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Leben gezogen und realisiert, im Hamlet bleibt er verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz <..> nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen.“ Für ihn zeigt sich an den beiden Stoffen die kulturelle Entwicklung. Er schreibt: „In der veränderten Handlung des nämlichen Stoffes offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinander liegenden Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben.“ Norbert Elias hat sich in seinem magnum opus „Über den Prozeß der Zivilisation“ dieser Gedanken als eines zentralen Topos bedient. Freud bemühte sich immer wieder und lebenslang um neue Definitionen und Formulierungen im Rahmen dualer Konflikte. Dabei handelt es sich, wie Laplanche und Pontalis betonen, um gegensätzliche innere Forderungen. Der ödipale Konflikt ist für Freud der Kernkomplex der Neurose. Schon bei Sophokles ist aber der Kern des Problems mehr als Vatermord und Inzest. König Ödipus sucht nach dem Schuldigen für die tödliche Pest. Er wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, muss eigene Schuld anerkennen und die Konsequenzen tragen. Insofern hat Freud recht. Die allgemeine Wahrheit ist, dass Menschen unbewusst Prozesse konstellieren, die konfliktreiches, oft destruktives Potenzial enthalten. Freud hat nie eine endgültige Formulierung entwickelt. In einem modernen, umfassenden Sinne hat Mertens folgende Definition gegeben: „Der Ödipus-Komplex umfasst <…> die Gesamtheit der kindlichen Liebes-, Hass- und Schuldgefühle gegenüber den Eltern.“ Es würde den Rahmen sprengen, wenn ich die Einzelheiten und Varianten diskutierte. Die m. E. beste moderne Auseinandersetzung darüber findet sich in dem ausgezeichneten Buch „Praxis der psychodynamischen Psychotherapie“ meiner ehemaligen Doktorandin und späteren Mitarbeiterin Annegret Boll-Klatt. Das Kapitel „Der ödipale Konflikt“ stammt von dem Ko-Autor Matthias Kohrs. Jedenfalls ist der ödipale Konflikt eine lebenslange Angelegenheit, und davon handeln die drei biographischen Vignetten im Folgenden. Allerdings liefert die psychoanalytische Abwehrlehre zum Thema Ödipus noch überraschende Erkenntnisse. In seiner Arbeit „Die Verleugnung der Realität“ setzt...
Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar 7. Frühjahrstagung am 30.März 2013 Hubert Speidel Die Ideologie der Goethe-Gesellschaft und der Klassik Stiftung Weimar im Kampf gegen Ettore Ghibellino „Dem Goethe gehen sie ja auch nach bis in die intimsten Winkel. Widerwärtig, diese Goetheschwärmer und -philologen! ´s ist nicht das Rechte. Wie langweilig ist der Briefwechsel mit Frau v. Stein, wo es sich immer nur ums Essen und Trinken handelt“ (Busch 2002). Ob dieses Aperçu von Wilhelm Busch eine ideologische oder eine polemische Verkürzung der Realität ist, läßt sich schwer entscheiden. Vielleicht war ihm nur die Überschätzung Frau v. Steins ein willkommener Anlaß zum Spott. Damit könnten wir uns identifizieren. Der Ideologiebegriff hat im Laufe seiner Geschichte Wandlungen erfahren. Sein Schöpfer, der Philosoph Antoine Louis Claude Destutt de Tracy wollte 1796 eine einheitliche Wissenschaft von Vorstellungen und Wahrnehmungen entwickeln, „une science qui traite des idées et perceptions“, die nicht ohne sinnliche Erfahrung auskommt, in Antithese zu dem Rationalismus Descartes‘. Er stand damit wie andere Spätaufklärer den Machtansprüchen Napoleons im Wege. Der Begriff wurde nun abgewertet und erst durch Marx und Engels wieder aufgegriffen: die Gedanken der herrschenden Klassen, die mit den bestehenden Produktionsverhältnissen in Einklang stehen, sind auch die herrschenden Gedanken der Gesellschaft (Wikipedia 2013). Wir werden diese Definition unschwer auf die Produktionsverhältnisse von Goethe-Gesellschaft und Klassik Stiftung Weimar übertragen können, auch den Hinweis Louis Althussers, dass Ideologien unbewußt sind. Ideologiekritik im Sinne Karl Poppers umfaßt die Analyse folgender Punkte: dogmatische Behauptung absoluter Wahrheiten, Tendenz zu Immunisierung gegen Kritik, Vorhandensein von Verschwörungstheorien, utopische Harmonieideale und die Behauptung von Werteurteilen als Tatsachen. Es ist, als habe Popper die beiden Weimarer Institutionen gekannt und gemeint. Er kritisiert aber den totalitären Charakter von Nationalsozialismus und Stalinismus. Ernst Nolte, der selbst Opfer totalitärer wissenschaftlicher Ideologie geworden ist, nannte das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Ideologien der Gewalt (2008). Was den Nationalsozialismus betrifft, so ist er inzwischen ein wohlfeiler Gegenstand politischer Gruppen von rechts und links geworden, die dagegen ihre eigenen Ideologien als Wahrheit und Humanität kontrastieren. Ideologien spielen auch heute, vielleicht mehr denn je, eine Rolle, weil sie Gewißheiten in einer Welt schaffen, die immer komplexer und unübersichtlicher wird. Ideologie gibt es nicht nur in der Politik und in den Geisteswissenschaften, sondern z. B. auch in der Medizin. Dass meine Generation als Kinder mit Spinat gequält wurde, den erst Erwachsene freiwillig essen, nämlich weil er wegen seines hohen Eisengehalts so gesund sei, war eine einfach organisierte Ideologie. Sie beruhte darauf, dass Justus v. Liebig, der den Kunstdünger erfunden und damit große Teile der Menschheit von Hungersnöten befreit hat, ein Komma falsch setzte. Ein anderer Großer ist Samuel Friedrich Christian Hahnemann. Berühmt ist er wegen einer hartnäckig überdauernden, wirtschaftlich mächtigen Ideologie des similia similibus oder, mit Matthäus 12, 24-27, der Austreibung des Teufels mit Beelzebub. Seine Homöopathie hat einen tiefen Glauben erzeugt, obwohl die Verdünnungen und das Wassergedächtnis so offensichtlicher Humbug sind. Weswegen ihm eigentlich größter Ruhm gebührt, ist nahezu unbekannt geblieben. Er ist der Erfinder der ärztlichen Anamnese, einer diagnostischen und therapeutischen Maßnahme von allergrößter Bedeutung. Sie transportiert nun den Placeboeffekt der Homöopathie bei seinen Nachfolgern bis heute, wird aber als therapeutisches Rationale nicht rezipiert, seine Wirkung vielmehr der durch die Anamnese erzeugten Magie der Kügelchen zugeschrieben. Dies und anderes sind Beispiele vergleichsweise harmloser Ideologien. Viel problematischer sind gesellschaftliche Ideologien, die sich z. B. hinter dem Getöse der antifaschistischen und Kampf-gegen-Rechts-Bewegung verbergen und ein erhebliches destruktives Potenzial entwickeln wie in Deutschland besonders die Kollektivschuldideologie und auf andere Weise weltweit das Gender-Mainstreaming, das mit einem kulturalistischen Irrglauben, von der Bevölkerung kaum bemerkt, der Minderheit der männlichen und weiblichen Homosexuellen eine ungeheure Macht verleiht, die sie mittels der aus dem Holocaust stammenden, inzwischen zu vielen Machtzwecken von Minderheiten nutzbaren Diskriminierungs- und Opferideologie befestigt hat. Eine deutsche Spezialität, die Antiatombewegung, ist ein Relikt des kalten Krieges, als Deutschland in Ost und West fürchtete, zum atomaren Schlachtfeld zu werden. Die Rezeption der tatsächlichen und befürchteten Folgen in der Öffentlichkeit ist von daher in einem Ausmaß von Irrationalitäten und Realitätsverleugnung beherrscht, dass eine rationale Diskussion kaum möglich ist. Es ist das Schicksal eines Volkes, das den 30-jährigen und zwei Weltkriege, zwei Diktaturen und die Teilung in zwei Machtblöcke nicht aus dem kollektiven Gedächtnis löschen kann. Idyllischer wirkt auf den ersten Blick eine andere, von der Antiatombewegung nicht unabhängige Ideologie, die grüne Religion, ein altes Element des deutschen Nationalcharakters, der aus Situationen politischer Ohnmacht entstanden ist und sich ein idealisiertes, mystisches Bild von Natur als Teil des kollektiven Selbstbildes entwickelt hat, das als Schutz vor allem Unkalkulierbaren dient. Deshalb sind auch die Kämpfe gegen alle neuen Techniken (Eisenbahnen, Flughäfen besonders) konstitutiv. Es ist ein Natur-Biedermeier, das ohne Verzicht zu haben ist, gar noch als Photovoltaik hohe Rendite abwirft (Möller 2013). Weil der so indoktrinierte Bürger diese vorläufig bequeme Existenz verteidigt, entwickelt sich eine mächtige Öko-Diktatur, der sich die Politik wahltaktisch fügt, gar noch sich an die Spitze der ideologischen Bewegung setzt, wie z. B. bei der Atomenergiewende, mit der eine Partei die Wahl in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen hoffte, damit aber scheiterte. Die Folgen spürt das ganze Volk, je ärmer, desto schmerzhafter. Diese gesellschaftlichen Ideologien, die sich immer als menschenfreundlich und fortschrittlich anbieten, obwohl sie in der Regel das Gegenteil davon sind bzw. sich immer mehr zum Gegenteil entwickeln, je länger und unbehelligter sie wirken, eignen sich wegen ihrer makrosozialen Wirkung als Kontrastbilder zu unserem viel begrenzteren, für die gesellschaftliche Situation nur fokal bedeutsamen Thema, obwohl sich zeigen wird, dass sich...